Die Moselreise - Roman eines Kindes
einem Eilzug nach Trier gefahren. Ich habe die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut, und auch Papa hat aus dem Fenster geschaut und mir die ganze Fahrt lang erklärt, was wir alles zu sehen bekamen. Schließlich sind wir auch an Schweich vorbei gekommen, und Papa hat gesagt, dass der Schriftsteller Stefan Andres in Schweich gelebt habe und dass ich ja schon wisse, dass auch die Geschichte »Der Knabe im Brunnen« in Schweich spiele. Ich habe Papa gefragt, ob wir nicht auch wegen Stefan Andres nach Schweich fahren sollten, um uns anzuschauen, wo Stefan Andres gelebt habe. Da aber hat Papa gesagt, dass wir dazu einfach keine Zeit mehr hätten und dass wir das alles vielleicht einmal während einer anderen Moselreise machen würden. Jetzt aber müssten wir dringend nach Trier, denn in Trier warte eine große Überraschung auf mich, und wir dürften die große Überraschung nicht noch weiter verschieben.
Ich war so aufgeregt, dass ich ein richtiges Magenkribbeln bekam, und ich habe Papa gefragt, ob er mir nicht wenigstens ein bißchen verraten könne, was denn die große Überraschung sei. Da aber hat Papa »auf gar keinen Fall« gesagt,
und da wusste ich, dass Papa nichts, aber auch gar nichts mehr sagen würde, denn wenn Papa »auf gar keinen Fall« sagt, kann man nichts mehr dagegen machen.
Wir kamen dann am Nachmittag in Trier an, und ich habe Papa gesagt, dass ich gleich eine Postkarte an Mama schreiben wolle. Wir haben dann auch eine Postkarte gekauft, Papa aber hat gesagt, dass ich die Postkarte nicht im Bahnhof, sondern in unserem »Privatquartier« schreiben solle. Wir sind dann zum Bahnhofsvorsteher gegangen, und da habe ich gleich bemerkt, dass Papa und der Bahnhofsvorsteher sich bereits sehr gut kannten. Papa hat den Bahnhofsvorsteher umarmt, und auch der Bahnhofsvorsteher hat Papa umarmt, und dann haben beide vereinbart, wo sie sich am Abend treffen und miteinander unterhalten würden. Der Bahnhofsvorsteher hat Papa dann den Schlüssel zu einer Wohnung gegeben, und dann sind Papa und ich mit einem Taxi zu der Wohnung gefahren, die in einem großen, schönen Haus direkt am Moselufer lag. Ich habe Papa gefragt, warum er mir denn nichts von dem Bahnhofsvorsteher von Trier und von dem schönen »Privatquartier« erzählt habe. Papa aber hat nur gesagt »warte ab!«, und so sind wir ganz still die Treppenstufen zu der schönen Wohnung an der Mosel hinauf gegangen. Papa hat die Wohnung aufgeschlossen, und dann sind wir hinein gegangen und Papa hat gesagt: »Die Wohnung gehört dem Bahnhofsvorsteher. Er wohnt aber nicht in dieser Wohnung, sondern er vermietet sie an Feriengäste. Weil ich aber den Louis sehr gut kenne, wohnen wir hier umsonst. Verstehst Du?«
Ich habe gesagt, dass das wirklich eine sehr große Überraschung sei, ausgerechnet in Trier in einer so schönen Wohnung zu wohnen. Da aber hat Papa gesagt, dass die schöne Wohnung nur die halbgroße Überraschung sei und dass die große Überraschung noch komme. Ich habe ihn gefragt, wann denn die große Überraschung komme, da hat Papa auf die Uhr geschaut und gesagt: »In genau vierzig Minuten!«
Papa mag Überraschungen
Papa macht gerne Überraschungen. Von fast allen Reisen, die er macht, bringt er mir zum Beispiel eine kleine Überraschung mit. Die Überraschungen sind meist verpackt. Ich muss sie auspacken, und Papa schaut zu, wie ich sie auspacke. Wenn ich sie ausgepackt habe, sagt Papa »na?«, und dann bedanke ich mich und gebe ihm einen Kuß auf die Stirn.
Ich habe Papa gefragt, ob er die Überraschung nicht schon früher machen könne, da aber hat er gesagt, dass ich noch ein wenig lesen solle, bis die Überraschung komme. Ich konnte aber vor lauter Aufregung nicht lesen, das habe ich Papa auch gesagt. Deshalb habe ich mich an ein Fenster der Wohnung gesetzt und hinab auf die Mosel und auf die Ausflugsschiffe geschaut, und so habe ich die vierzig Minuten bis zur großen Überraschung hinter mich gebracht.
Dann aber hat es plötzlich geklingelt, und Papa hat gesagt: »Mach bitte die Tür auf, das ist jetzt die große Überraschung!« Ich habe die Wohnungstür aufgemacht und in den Hausflur geschaut, und ich war so erschrocken, dass ich gar
nichts mehr sagen konnte. Im Hausflur stand nämlich die Mama, und neben der Mama stand ein kleiner Koffer, und ich habe die liebste Mama angestarrt, als würde ich sie gar nicht kennen. Mama hat gar nichts gesagt, sie hat nur ein bißchen gelächelt, und dann hat sie die Arme
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