Die Muenze von Akragas
Felsvorsprung, der aus einem Hügel herausragt wie ein Stoßzahn. Die Nacht ist klar, doch nicht hell genug, um gefahrlos den Hügel hinabzuklettern. Besser, er wartet das Morgengrauen ab. Ohnehin verfolgt ihn keiner mehr. Er betrachtet die Sterne, berechnet seinen Standort. Sofort weiß er, welchen Weg er gehen muss, um zum Handelsplatz am Meer zu gelangen und sich auf dem Markt unter die Kaufleute zu mischen. Noch etwa drei Stunden bis Sonnenaufgang. Jetzt darf er sich ausruhen. Doch es ist zu kalt, um im Freien zu schlafen. Er kehrt in den Stollen zurück, setzt sich auf den Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, und zieht seine Sandalen aus, die ihn schmerzhaft drücken. Er schläft ein.
Das erste Licht, das durch die dichten Macchiabüsche fällt, weckt ihn auf. Er muss sofort weitergehen. Während er sich erhebt, beschließt er, die Sandalen nicht wieder anzuziehen, seine Füße schmerzen noch immer. Um aus dem Stollen herauszukommen, drückt er mit beiden Armen die Zweige vor der Öffnung beiseite und steigt mit dem linken Fuß voran aus dem Loch.
Sofort spürt er einen stechenden Schmerz in der Fußsohle. Das war sicher ein Biss. Doch was hat ihn gebissen?
Im Freien auf der Erde sitzend, besieht er sich die Wunde. Es war eine Viper, er erkennt die winzigen Löcher der drei Zähne sofort. Schlangenbisse im Winter sind selten, aber fast immer tödlich. Kalebas verzweifelt nicht, er ist ein tapferer Mann. Mit dem Gurt bindet er sich das Bein oberhalb des Knies ab, dann schneidet er mit dem Dolch tief in jedes der drei Löchlein und lässt das Blut herausströmen. Nach einer Weile reißt er ein Stück Stoff aus der Toga und verbindet die Wunde. Was auch immer geschehen wird, fest steht, dass er sich vorerst nicht von hier wegbewegen kann.
Kalebas stirbt nach drei Tagen Todeskampf. Das Letzte, was er in seinem Delirium tut, ist, dass er aufsteht, den Beutel mit den Goldmünzen öffnet und sie weit von sich schleudert.
Dann stürzt er von dem Felsvorsprung.
Zwei Der Bauer und der Arzt
Der Amtsarzt von Vigata, Doktor Stefano Gibilaro, schlägt wie immer um vier Uhr morgens die Augen auf, reckt die Glieder und steigt vorsichtig aus dem Bett, um seine Frau ’Ndondò nicht zu wecken. Er weiß zwar, dass nicht einmal Kanonenschüsse sie wecken könnten. Aber man lässt es lieber nicht auf einen Versuch ankommen.
Er geht sofort in die Küche, um den Kaffee zu trinken, der am Abend zuvor gekocht wurde und in einer speziellen Kaffeekanne aus Keramik warmgehalten wird, in der unten in einem Eckchen ein Wachslicht brennt.
An diesem Tag, dem 20. Dezember 1909, wird er fünfzig Jahre alt. Doch für ihn ist es ein Arbeitstag wie jeder andere. Oder besser, der einzige Unterschied wird darin bestehen, dass er pünktlich zum Mittagessen wieder zu Hause sein muss, nicht verspätet, wie so oft, weil ihr einziger Sohn Michele im Laufe des Vormittags aus Palermo, wo er Medizin studiert, ankommen wird, um den väterlichen Geburtstag zu feiern. Er wird die unvermeidlichen sechs Cannoli aus der preisgekrönten schweizerisch-palermitanischen Konditorei mitbringen, von denen Gibilaro Sodbrennen bekommt.
Er macht das Badezimmerfenster weit auf. Die Nacht ist sternenklar, aber kalt. Er betrachtet sich im Spiegel. Und erliegt vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben einem Anflug von Eitelkeit. Na ja, für einen Fünfzigjährigen sieht er gar nicht übel aus. Im Gegenteil. Er könnte sich gut und gerne ein paar Jährchen abziehen. Und als tüchtiger Arzt weiß er, dass seine inneren Organe alle noch in Ordnung sind, ganz ohne Zipperlein. Er stutzt sich mit der kleinen Schere ein wenig den Schnurrbart.
Cosimo Cammarota, sechzig, wacht so gegen vier auf. Braucht fünf Minuten fürs Waschen im Brunnen draußen vorm Häuschen, wo er allein lebt, denn seine Frau Nunziata ist vor fünfzehn Jahren gestorben, und sein Sohn Pitrino sitzt im Gefängnis wegen Mordes, und seine Tochter Rosalia ist Dienstmädchen im Haus von den Herrschaften Scozzari, und nachdem er einen halben Laib Brot und ein gekochtes Ei in sein Bündel getan und die große Schaufel genommen hat, geht er hinkend zur Abzweigung der Commarella, denn da ist ’Ntonio Prestia, der wartet mit dem Maultier.
Hinken tut er, weil er vor zwanzig Jahren, wie er auf den Ländereien vom Marchese Laurentano den Boden gehackt, einmal zu viel Sonne abgekriegt und den Drehwurm im Kopf gehabt hat, und da hat er sich mit der Schaufel so tief ins linke Bein
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