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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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Belieben damit verfahren würde. »Na ja, wenn du das Erdkundebuch nicht gehabt hast.« Vor der Tür winselten die Hunde. Sie ließ sie herein, was sie an ihr Futter erinnerte, so daß sie die Näpfe mit Hundekuchen füllte und eine Dose Bonzo aufmachte und sich in ihrer Hektik den Daumen an dem schartigen Deckelrand aufschnitt. »Mein Gott, wie ungeschickt du bist«, sagte Rupert zu ihr. Nancy wandte ihm den Rücken zu und hielt den Daumen unter laufendes Wasser, bis er aufhörte zu bluten.
    »Wenn ich keine fünfundzwanzig Pence habe, ist Miss Rawlings bestimmt sauer.«
    Sie lief nach oben, um sich zurechtzumachen. Sie hatte keine Zeit für zarte Übergänge oder Augenbrauenstift, und das Ergebnis war alles andere als zufriedenstellend, aber sie konnte es nicht ändern. Sie hatte keine Zeit. Sie holte den Pelzmantel aus dem Schrank, die dazu passende Pelzkappe. Sie nahm Handschuhe und die Eidechstasche von Mappin and Webb heraus. Sie schüttete den Inhalt ihrer Alltagstasche hinein, worauf sie natürlich nicht mehr zu schließen war. Von mir aus. Ich kann’s nicht ändern. Ich habe keine Zeit. Sie lief wieder nach unten und rief nach den Kindern. Wie durch ein Wunder erschienen sie mit ihren gepackten Schultaschen, und Melanie stülpte sich die Mütze auf, die ihr kein bißchen stand. Sie verließen das Haus durch die Hintertür, gingen zur Garage und stiegen in den Wagen, der Gott sei Dank sofort ansprang, und fuhren los. Sie brachte die Kinder zur Schule, ließ jedes von ihnen am Tor aussteigen und hatte kaum die Zeit, auf Wiedersehen zu sagen, ehe sie weiterfuhr. Dann brauste sie nach Cheltenham. Als sie den Wagen auf dem Bahnhofsparkplatz abstellte, war es zehn nach neun, und als sie die verbilligte Rückfahrkarte kaufte, war es zwölf nach neun. Am Zeitungskiosk mogelte sie sich mit einem, wie sie hoffte, charmanten Lächeln an der Schlange vorbei und kaufte den Daily Telegraph, und - ein unerhörter Luxus - eine Harpers and Queen. Als sie gezahlt hatte, sah sie, daß es eine alte Nummer war, die vom letzten Monat, aber sie hatte keine Zeit, darauf hinzuweisen und das Geld zurückzuverlangen. Außerdem spielte es im Grunde keine Rolle, daß es eine alte Nummer war; sie war schick und hochglanzgedruckt, außerordentlich luxuriös. Während sie sich dies sagte, trat sie auf den Bahnsteig, auf dem der Zug nach London gerade einfuhr. Sie machte die nächstbeste Tür auf, stieg ein und fand einen Platz. Sie war völlig außer Atem, und ihr Herz hämmerte. Sie schloß die Augen. So ungefähr muß es sein, wenn man sich mit knapper Not aus einer Feuersbrunst gerettet hat, sagte sie sich. Nach einer Weile, nach einigen tiefen Atemzügen und einem kleinen beruhigenden Selbstgespräch, ging es ihr wieder besser. Das Abteil war zum Glück sehr gut geheizt. Sie schlug die Augen auf und öffnete die Schnappverschlüsse des Pelzmantels. Sie setzte sich gemütlich zurecht, betrachtete die graue Winterlandschaft, die am Fenster vorbeiflog, und ließ ihre angespannten Nerven von dem monotonen Rattern des Zuges beruhigen. Sie fuhr gerne Eisenbahn. Das Telefon konnte nicht klingeln, man konnte ruhig dasitzen, man brauchte nicht zu denken.
    Die Kopfschmerzen waren fort. Sie nahm ihren Compactpuder aus der Handtasche und begutachtete ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel, tupfte ein wenig Puder auf die Nase und rieb die Lippen aufeinander, um den Lippenstift zu verteilen. Die Illustrierte lag wie eine ungeöffnete Schachtel mit dunkelbraunen, innen köstlich weichen Pralinen auf ihrem Schoß. Sie blätterte darin und sah Annoncen für Pelze, für Häuser in Südspanien, für Time-Sharing-Residenzen im schottischen Hochland, für Schmuck, für Kosmetika, die einen nicht nur verschönen, sondern die Haut von innen her aufbauen würden, für Kreuzfahrten in den Süden, für. Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit geweckt, und sie hielt abrupt inne. Die Auktionsfirma Boothby’s warb mit einem doppelseitigen Inserat für eine Versteigerung viktorianischer Kunst, die Mittwoch, den 2.1. März, in ihren Verkaufsräumen in der Bond Street stattfinden würde. Das abgebildete Kunstwerk war ein Gemälde von Lawrence Stern, 1865 -1946. Es hieß Die Wasserträgerinnen (1904) und zeigte eine Gruppe von jüngeren Frauen, die große Kupferkrüge auf der Schulter oder an der Hüfte trugen. Nancy betrachtete sie und kam zu dem Schluß, sie müßten wohl Sklavinnen sein, weil sie barfüßig waren, nicht lächelten (die armen Dinger, kein Wunder, die

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