Die Muschelsucher
ging zu ihrem Sessel hinter dem Schreibtisch zurück. »Wir hatten Ibiza schon lange nicht mehr. aber ich möchte eigentlich keine Strandfotos. Lieber zur Abwechslung ein ländlicher Hintergrund mit Ziegen und Schafen und kräftigen ausgemergelten Bauern beim Pflügen. Sie könnten vielleicht ein paar Einheimische engagieren, um einen authentischen Touch zu bekommen. Sie haben wunderbare Gesichter und lassen sich gern fotografieren.«
»Sehr gut.«
»Besprechen Sie alles weitere mit Carla.« Er zögerte. »Dann habe ich den Auftrag?«
»Sicher. Liefern Sie uns gute Bilder.«
»Ich werde mich bemühen. Vielen Dank.« Er sammelte seine Abzüge ein und schob sie zu einem kleinen Stapel zusammen. Olivias Sprechanlage summte, und sie drückte auf die Taste und sprach mit der Sekretärin. »Ja?«
»Ein Anruf von draußen, Miss Keeling.« Sie sah auf die Uhr. Es war Viertel nach zwölf. »Wer ist es? Ich habe eine Verabredung zum Lunch und muß los.«
»Ein Mr. Henry Spotswood.«
Henry Spotswood. Wer zum Teufel war Henry Spotswood? Dann fiel es ihr plötzlich wieder ein, und sie sah den Mann vor sich, den sie vorgestern abend auf der Cocktailparty der Ridgeways kennengelernt hatte. Graumeliertes Haar und so groß wie sie. Aber er hatte sich als Hank vorgestellt. »Stellen Sie bitte durch, Jane.«
Während sie zum Hörer griff, ging Lyle Medwin mit seiner Fotomappe unter dem Arm geräuschlos durch den Raum und öffnete die Tür.
»Wiedersehen«, sagte er kaum hörbar, und sie hob die Hand und lächelte, aber da war er schon verschwunden. »Miss Keeling?«
»Ja.«
»Olivia, hier Hank Spotswood, wir haben uns bei den Ridgeways kennengelernt.«
»Ja, ich weiß.«
»Ich habe ein oder zwei Stunden. Könnten wir vielleicht zusammen essen?«
»Wie, heute?«
»Ja, jetzt.«
»Oh, tut mir leid, es geht nicht. Meine Schwester kommt von außerhalb, und ich bin mit ihr zum Lunch verabredet. Ich müßte eigentlich schon weg sein.«
»Schade. Wie wär’s dann heute abend zum Dinner?« Seine Stimme half ihrer Erinnerung nach, und jetzt sah sie die Einzelheiten. Blaue Augen. Ein sympathisches, markantes, typisch amerikanisches Gesicht. Dunkler Anzug, Button-down-Hemd von Brooks Brothers. »Klingt nicht schlecht.«
»Sehr gut. Wo würden Sie gern essen?«
Sie kämpfte eine Sekunde lang mit sich, ehe sie einen Entschluß faßte.
»Was würden Sie dazu sagen, zur Abwechslung einmal nicht in einem Restaurant oder einem Hotel essen zu müssen?«
»Was meinen Sie damit?«
»Kommen Sie zu mir, ich lade Sie ein.«
»Das wäre großartig.« Es klang überrascht, sehr angetan. »Aber ist das nicht eine Zumutung für Sie?«
»Absolut nicht«, antwortete sie und lächelte über das altmodische Wort. »Kommen Sie bitte kurz nach acht.« Sie gab ihm die Adresse und beschrieb ihm für den Fall, daß er an einen schwachsinnigen Taxifahrer geriet, kurz den Weg, und dann verabschiedeten sie sich, und sie legte auf.
Hank Spotswood. Das war gut. Sie lächelte vor sich hin, blickte wieder auf die Uhr, drängte Hank aus ihren Gedanken, sprang auf, nahm Hut, Mantel, Tasche und Handschuhe und eilte aus dem Büro, um nicht allzu spät zum Lunch mit Nancy zu kommen. Sie hatten sich im L’Escargot in Soho verabredet, und sie hatte einen Tisch bestellt. Sie wählte dieses Restaurant immer für Arbeitsessen, und sie hatte keinen Grund gesehen, sich für ein anderes zu entscheiden, obwohl sie wußte, daß sich Nancy bei Harvey Nichols oder einem anderen Lokal voller Frauen, die sich nach einem anstrengenden morgendlichen Einkaufsbummel ausruhten, viel wohler fühlen würde.
Sie hatte das L’Escargot gewählt, und sie kam zu spät, Nancy wartete schon auf sie, dicker denn je, in ihrem gesprenkelten Pullover und dem unsäglichen Rock, mit einer Pelzkappe, die fast die gleiche Farbe hatte wie ihre stumpfen dunkelblonden Locken, bei denen sie, Olivia, immer an eine Perücke denken mußte. Da saß sie, eine einsame Frau in einem Meer von Geschäftsleuten, mit der Handtasche auf dem Schoß und einem großen Gin-Tonic vor sich auf dem kleinen Tisch, und sie wirkte so lächerlich deplaciert, daß Olivia Gewissensbisse bekam und ihre Begrüßung freundlicher ausfiel, als ihr zumute war.
»Oh, Nancy, es tut mir leid, es tut mir schrecklich leid, ich bin aufgehalten worden. Wartest du schon lange?« Sie gaben sich keinen Kuß. Sie küßten sich nie. »Nein, erst ein paar Minuten.«
» Gut, daß du dir etwas zu trinken bestellt hast. Du möchtest doch
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