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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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Antonia bückte sich und hob einen scharlachroten Seidenschal auf. » Er ist sehr hübsch.« Sie legte ihn sich um und kämmte die Fransen mit den Fingern durch. »Wie sieht es aus?«
    »Exotisch.«
    Sie nahm den Schal von den Schultern und faltete ihn zusammen. »Penelope hat mich hochgeschickt, um zu fragen, ob Sie etwas essen möchten.«
    Noel blickte auf die Uhr und sah nicht wenig überrascht, daß es schon halb eins war. Draußen war es nicht heller geworden, und er hatte sich so sehr auf seine Aufgabe konzentriert, daß er jegliches Gefühl für Zeit verloren hatte. Er wurde sich bewußt, daß er nicht nur Hunger, sondern auch Durst hatte. Er stemmte sich vom Schemel hoch und stand auf. »Vor allem brauche ich einen Gin-Tonic.«
    »Machen Sie heute nachmittag weiter?«
    »Mir wird nichts anderes übrigbleiben. Sonst wird es nie erledigt.«
    »Wenn Sie wollen, komme ich mit und helfe Ihnen.«
    Aber er wollte sie nicht dabei haben. Er wollte nicht, daß ihm irgend jemand zusah. »Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich glaube, ich komme besser allein klar. Wenn ich mein Tempo selbst bestimmen kann. Gehen wir.« Er winkte sie vor sich her zur Treppe. »Sehen wir mal nach, was Ma zum Lunch gezaubert hat.« Um halb sieben Uhr abends war die lange Suche beendet, und Noel wußte, daß er eine Niete gezogen hatte. Der Dachboden von Podmore’s Thatch barg keinen Schatz. Er hatte keine einzige Skizze von Lawrence Stern gefunden, und das ganze Unternehmen war Zeitverschwendung gewesen. Während er versuchte, mit dieser bitteren Wahrheit fertig zu werden, stand er mit den Händen in den Taschen da und betrachtete das neue Durcheinander, das er aus dem alten gemacht hatte. Er war müde und schmutzig und schwer enttäuscht, und seine schlechte Laune schlug in Zorn und Groll um. Beides richtete sich größtenteils gegen seine Mutter, die an allem schuld war.
    Sie hatte die Skizzen wahrscheinlich irgendwann vernichtet oder für ein Butterbrot verkauft oder sogar verschenkt. Ihre gedankenlose und törichte Großzügigkeit und ihr Hamstertrieb, der sie veranlaßte, jeden alten Mist aufzubewahren, hatten ihn schon immer geärgert, und nun platzte er fast vor Wut. Seine Zeit war kostbar, und er hatte einen ganzen Tag damit vergeudet, den Müll von weiß Gott wie vielen Generationen zu sortieren, nur weil sie sich nie dazu hatte durchringen können, es selbst zu tun. Er war so wütend, daß er einen Augenblick lang erwog, alles hinzuwerfen und das Mittel zu benutzen, das normalerweise für Einstern-Wochenenden reserviert war - sich plötzlich an eine dringende Verabredung zu erinnern, auf Wiedersehen zu sagen und nach London zurückzufahren.
    Aber das war nicht möglich, dazu war er zu weit gegangen und hatte zuviel geredet. Er hatte das Unternehmen in Gang gesetzt (Haus nicht ausreichend gesichert, Feuerrisiko, ungenügende Versicherung und all das), und er hatte Olivia gesagt, daß es möglicherweise Skizzen gab. Obgleich er jetzt so gut wie sicher war, daß keine existierten, durfte er sich nicht einfach gehenlassen, denn er konnte sich nur zu gut vorstellen, was für bissige Bemerkungen Olivia dann machen würde, und da er in dieser Hinsicht kein dickes Fell hatte, wollte er sich nicht dem Spott seiner scharfzüngigen Schwester aussetzen.
    Es hatte keinen Sinn. Er mußte bleiben. Er versetzte einem zerbrochenen Puppenbett einen wütenden Tritt, knipste die Glühbirne und die alte Lampe aus und ging hinunter.
    In der Nacht hörte es auf zu regnen, ein leichter Wind von Südost blies die Wolken fort und zerstreute sie. Als der Sonntagmorgen graute, war der Himmel klar, und die friedliche Stille ringsum wurde nur von einem Chor zwitschernder Vögel unterbrochen. Das Gezwitscher war es, was Antonia weckte. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das offene Fenster des Zimmers, bildeten eine helle Bahn auf dem Teppich und ließen die tiefrosa Rosen auf dem Vorhang intensiv leuchten. Sie stand auf und trat ans Fenster, um den neuen Tag zu begrüßen, stützte die bloßen Unterarme auf das Fensterbrett und sog die feuchte, nach Moos riechende Luft ein. Das Strohdach reichte so tief, daß einige Halme sie auf dem Kopf kitzelten, und sie sah den glitzernden Tau auf dem Gras und die beiden Drosseln, die einander in den Zweigen der Kastanie zu haschen versuchten, und genoß den Anblick eines wunderschönen dunstverhangenen Frühlingsmorgens.
    Er war halb acht. Da es gestern den ganzen Tag geregnet hatte, waren sie überhaupt nicht nach

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