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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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kniete sich neben ihn hin, und beugte sich, um kein Wort zu verpassen, dicht zu ihm.
    »Hallo? Hier Cam Cottage. Hallo?«
    Ein Summen, ein hoher schriller Ton, ein merkwürdiges schnarrendes Geräusch, und dann endlich: »Hallo.« Aber es war nicht Sophies Stimme. »Hier Lawrence Stern.«
    »Oh, Lawrence, ich bin’s, Lalla Friedmann. Ja, Lalla aus der Oakley Street. Ich habe erst jetzt Anschluß bekommen. Ich habe es seit zwei Stunden versucht. Ich.« Ihre Stimme brach, und sie verstummte. »Was ist, Lalla?«
    »Sie sind nicht allein?«
    »Nein, Penelope ist bei mir. Es. es ist Sophie, nicht wahr?«
    »ja. O Lawrence. Und die Cliffords. Alle. Sie sind alle tot. Das Haus der Dickins ist von einer Landmine getroffen worden. Es ist nichts geblieben. Willi und ich sind da gewesen. Als sie heute morgen immer noch nicht wieder da waren, hat Willi versucht, bei den Dickins anzurufen, aber er bekam natürlich keinen Anschluß. Also sind wir hingefahren, um zu sehen, was geschehen ist. Wir sind einmal Weihnachten da gewesen und wußten den Weg. Wir nahmen ein Taxi, aber dann mußten wir zu Fuß gehen...« Es ist nichts geblieben.
    »...und als wir das Ende der Straße erreichten, war alles abgesperrt, niemand durfte hingehen, und die Feuerwehrmänner waren noch an der Arbeit. Aber wir konnten es sehen. Das Haus war nicht mehr da. Man sah nur noch einen großen Trichter. In der Nähe stand ein Polizist, und ich redete mit ihm. Er war sehr freundlich, aber er sagte, es gebe keine Hoffnung. Keine Hoffnung, Lawrence.« Sie fing an zu weinen. »Alle. Tot. Es tut mir so leid. Es tut mir so schrecklich leid, daß ich es Ihnen sagen muß.« Es ist nichts geblieben. Lawrence sagte: »Es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie selbst hingefahren sind und nachgesehen haben. Und es war sehr freundlich, daß Sie mich angerufen haben.«
    »Mir ist in meinem ganzen Leben noch nie etwas so schwer gefallen.«
    »Ja«, sagte Lawrence. »Ja.« Er saß da und starrte vor sich hin. Dann ließ er den Hörer sinken, und seine knotigen Finger zitterten heftig, als er ihn auf die Gabel legte. Penelope wandte den Kopf und legte ihn an seinen dicken Wollpullover. Die Stille, die nun folgte, war grenzenlos leer. Ein Vakuum. »Papa.«
    Er hob die Hand und streichelte ihr Haar. »Papa.«
    Sie blickte zu ihm hoch, und er schüttelte den Kopf. Sie wußte, daß er allein sein wollte. Und in diesem Augenblick sah sie, daß er alt war. Er war ihr noch nie alt vorgekommen, und sie wußte auf einmal, daß er nie wieder so sein würde wie früher. Sie stand auf, ging aus dem Zimmer und machte die Tür zu. Es ist nichts geblieben.
    Sie ging nach oben, in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Niemand hatte an diesem furchtbaren Morgen daran gedacht, das Bett zu machen. Das Laken war noch zerknittert, das Kissen eingebuchtet vom Kopf ihres schlaflosen Vaters. Er hatte es gewußt. Sie hatte es gewußt. Sie hatten gehofft und sich gezwungen, nicht den Mut zu verlieren, trotz der tödlichen Gewißheit. Sie hatten es beide gewußt.
    Es ist nichts geblieben.
    Auf Sophies Nachttisch lag das Buch, das sie an dem Abend, ehe sie nach London gefahren war, gelesen hatte. Penelope ging hin, setzte sich aufs Bett und nahm das Buch. Es klappte an jener oft gelesenen Seite von selbst auf.
    »Ich bin wahrlich eine glückliche Frau, ich lebe mit Büchern, Kindern, Vögeln und Blumen in einem Garten und habe viel Muße, all das zu genießen. Manchmal ist mir, als wäre ich gesegnet vor allen meinen Mitmenschen, weil ich das Glück so leicht finden kann.«
    Die Worte verschwammen und waren fort wie Gestalten, die man durch ein regengepeitschtes Fenster sieht. Das Glück so leicht zu finden. Sophie hatte es nicht nur gefunden, sie hatte es auch ausgestrahlt. Und nun war nichts geblieben. Das Buch glitt aus ihren Fingern. Sie legte sich hin, vergrub ihr tränenüberströmtes Gesicht in Sophies Kissen, und das Leinen war so kühl wie die Haut ihrer Mutter und noch erfüllt von ihrem süßen Duft, als hätte sie den Raum eben erst, vor einem Augenblick, verlassen.

Noel Keeling war ein guter Sportler, vor allem ein enorm reaktionsschneller Squash-Spieler, aber ansonsten hielt er nicht viel von körperlicher Betätigung. Wenn er an einem Wochenende auf dem Land von der Gastgeberin nachmittags zum Bäumebeschneiden oder zu gemeinschaftlichen Gartenarbeiten abkommandiert wurde, suchte er sich unweigerlich die leichtesten Aufgaben aus, sammelte kleine Zweige für das Feuer oder zwickte die

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