Die Muschelsucher
dagegen nicht auch allergisch?«
»Ich glaube nicht. Ich finde, es ist einen Versuch wert. Aber das ist jetzt nicht der springende Punkt. Wir haben davon geredet, daß du vielleicht als Fotomodell arbeiten könntest. Nur ein oder zwei Jahre. Du würdest eine Menge Geld verdienen und könntest ein bißchen sparen, und wenn du dann herausgefunden hast, was du wirklich tun möchtest, hättest du etwas Kapital. Und wärst unabhängig. Denk darüber nach, während du in Podmore’s Thatch bist. Sag mir Bescheid, was du beschlossen hast, und ich werde Probeaufnahmen arrangieren.«
»Du bist so freundlich zu mir.«
»Kein bißchen. Ich versuche nur, mir eine praktische Lösung einfallen zu lassen.«
Nüchtern betrachtet, war es keine schlechte Idee. Der Gedanke, auf diese Weise zu arbeiten, machte ihr angst, aber wenn sie damit etwas Geld verdienen könnte, wäre es ein wenig Angst, peinliche Momente und dicke Schminkschichten wert. Und außerdem fiel ihr absolut nichts ein, was sie gern tun würde, so krampfhaft sie auch nachdachte. Sie kochte ganz gern, arbeitete gern im Garten, pflanzte und pflückte Obst - in den zwei Jahren mit Cosmo in Ibiza hatte sie kaum etwas anderes getan -, aber mit Obstpflücken konnte man schlecht seinen Lebensunterhalt verdienen. Und sie wollte nicht in einem Büro arbeiten, sie wollte nicht Verkäuferin werden, sie wollte weder in einer Bank noch in einem Krankenhaus arbeiten. Hatte sie eine andere Wahl?
Auf der anderen Seite des Tals begannen die Kirchenglocken zu läuten, und die Klänge gaben der friedlichen Landschaft ringsum eine getragene Melancholie. Antonia dachte an andere Glocken, an die hellklingenden Glocken der Ziegen in Ibiza, die frühmorgens auf den kargen und steinigen Wiesen um Cosmos Haus gebimmelt hatten, und an die anderen Geräusche, das Hähnekrähen und das nächtliche Zirpen der Zikaden, an die Geräusche von Ibiza, die nun, für immer verklungen, der Vergangenheit angehörten. Sie dachte an Cosmo, und sie konnte es zum erstenmal tun, ohne daß ihr Tränen in die Augen stiegen. Kummer war eine lähmende Bürde, aber man konnte sie irgendwann ablegen und hinter sich lassen, weitergehen. Antonia hatte erst einige wenige Schritte getan, doch sie war bereits imstande, sich umzudrehen und zurückzuschauen, ohne zu weinen. Es hatte nichts mit Vergessen zu tun. Nein, man vergaß nicht - man akzeptierte es. Nichts war so schlimm wie vorher, wenn man es einmal akzeptiert hatte. Die Glocken läuteten vielleicht zehn Minuten, und dann verstummten sie plötzlich. Die nun eintretende Stille begann sich langsam mit den leisen Geräuschen des Morgens zu füllen. Das Murmeln des Wassers, das Muhen der Kühe, das Blöken der Schafe. Ein Hund bellte. Ein Auto wurde angelassen. Antonia merkte auf einmal, daß sie nagenden Hunger hatte. Sie stand auf, verließ die Brücke und ging den Weg zurück, den sie gekommen war, nach Podmore’s Thatch zum Frühstück. Vielleicht ein gekochtes Ei und eine Scheibe Vollkornbrot mit Butter und starker Tee. Der bloße Gedanke an diese Köstlichkeiten erfüllte sie mit Befriedigung. Zum erstenmal seit Wochen ganz einfach glücklich, fing sie an zu rennen, zog unter den Weiden den Kopf ein, um nicht von den Zweigen ins Gesicht getroffen zu werden. Sie war glücklich und freudig erregt wie ein kleines Mädchen, dem gleich etwas Wunderbares widerfahren wird.
Als sie die Weißdornhecke und die Pforte zu Penelopes Obstwiese erreichte, war sie erhitzt und außer Atem. Sie lehnte sich einen Moment keuchend an die Pforte und machte sie erst dann auf, um zum Haus zu gehen. Während sie das tat, nahm sie eine Bewegung wahr, und als sie genauer hinsah, erblickte sie einen Mann, der eine Schubkarre den Weg vom Garten zu den knorrigen Apfel- und Birnenbäumen mit Penelopes Wäscheleine entlangschob. Ein junger Mann, großgewachsen, mit langen Beinen. Nicht Noel. Jemand anders.
Sie machte die Pforte zu. Das Klicken erregte seine Aufmerksamkeit, und er blickte auf und sah sie.
»Guten Morgen«, rief er und schob die Karre, deren quietschendes Rad dringend geölt werden mußte, weiter den holprigen Weg entlang. Antonia blieb, wo sie war, und schaute ihm zu. Neben dem kleinen Haufen von Asche und Zweigresten, der vom Feuer übriggeblieben war, blieb er stehen, stellte die Karre ab, richtete sich auf und drückte den Rücken durch. Er erwiderte ihren Blick. Er trug geflickte und ausgewaschene Jeans, die in Gummistiefeln steckten, und einen alten und zu großen
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