Die Muschelsucher
Mama geweint, als sie gestorben war, aber nun tat sie es. Ganz allein, ohne einen Zeugen für ihre Schwäche, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Die harte und gefürchtete Miss Keeling, Chefredakteurin von Venus, hätte ebensogut nie existiert haben können. Sie war wieder ein Schulmädchen, platzte in das große Souterrainzimmer in der Oakley Street, rief »Mama!« und wußte, daß Mama von irgendwoher antworten würde. Und während sie weinte, zerbrach der Panzer, die undurchdringliche Mauer der Selbstkontrolle, die sie um sich gezogen hatte, zerbrach und löste sich auf. Ohne diesen Panzer hätte sie die ersten Tage in einer kalten Welt, wo Mama nicht mehr existierte, nicht überstehen können. Nun war sie, von ihrem Kummer erlöst, wieder ein Mensch und mehr sie selbst. Als sie sich nach einer Weile ein wenig gefaßt hatte, nahm sie die letzte Seite des Briefs und las zu Ende.
... und wünsche, ich könnte bei Euch sein, mit Euch lachen und an all den Dingen teilhaben, die im Haus geschehen, das ich im Lauf der Zeit immer mehr als mein zweites Heim betrachtet habe. Es war alles gut, in jedem Sinn des Wortes. Und in unserem Leben geht nichts Gutes wirklich verloren. Es bleibt ein Teil von uns, wird ein Teil unserer Persönlichkeit. Deshalb begleitet mich ein Teil von Dir überallhin. Und ein Teil von mir gehört für immer zu Dir. Ich liebe Dich.
Richard
Richard. Sie sprach den Namen laut aus. Ein Teil von mir gehört für immer zu Dir. Sie faltete den Brief zusammen und legte ihn mit dem Foto in das Herbsttagebuch zurück. Sie klappte das Buch zu, legte sich hin, sah zur Decke hinauf und dachte, jetzt weiß ich alles. Aber ihr war klar, daß sie nicht alles wußte, und daß sie unbedingt bis in die letzte Kleinigkeit erfahren wollte, was damals geschehen war. Wie sie einander kennengelernt hatten; wie er in ihr Leben getreten war; wie sie sich ineinander verliebt hatten und wie aus der Verliebtheit jene tiefe Liebe entstanden war. Und wie er gefallen war. Aber wer wußte davon? Nur ein Mensch kam in Frage. Doris Penberth. Doris und Mama waren den ganzen Krieg über zusammen gewesen. Sie hatten bestimmt keine Geheimnisse voreinander gehabt. Olivia begann aufgeregt zu planen. Irgendwann. vielleicht im September, wenn in der Redaktion gewöhnlich nicht allzu viel los war. würde sie ein paar Tage freinehmen und nach Cornwall fahren. Aber als erstes würde sie Doris schreiben und ihr sagen, daß sie gern einmal nach Porthkerris kommen würde. Höchstwahrscheinlich würde Doris sie einladen. Und dann würden sie reden, und sie würden natürlich von Penelope reden, und irgendwann würde Richards Name fallen, und schließlich würde sie, Olivia, alles erfahren. Aber sie würden nicht nur reden. Doris würde ihr Porthkerris zeigen und all die Plätze, die so untrennbar zu Mamas Leben gehört hatten und die sie nie gesehen hatte. Sie würde ihr auch das Haus zeigen, wo Mama damals gewohnt hatte, und sie würden das kleine Museum besuchen, das Lawrence Stern mit gegründet hatte, und sie würde Die Muschelsucher noch einmal sehen können.
Sie dachte an die vierzehn Skizzen, die Lawrence Stern um die Jahrhundertwende gezeichnet hatte und die nun Danus gehörten. Sie erinnerte sich an das, was Noel und sie gestern abend vor seinem Aufbruch nach London gesagt hatten. Und warum sie sie dem jungen Mann vermacht hat? Weil sie ihn mochte? Weil er ihr leid tat? Vielleicht wollte sie ihm helfen?
Es muß mehr sein als das.
Vielleicht. Aber ich glaube nicht, daß wir es jemals herausfinden werden.
Sie hatte sich geirrt. Mama hatte Danus die Skizzen aus einer Reihe von Gründen vermacht. Noel hatte mit seinem unaufhörlichen Bohren ihre Geduld reichlich strapaziert, und in Danus hatte sie jemanden gefunden, der es wert war, daß man ihm half. Als sie in Porthkerris gewesen waren, hatte sie beobachtet, wie seine Liebe zu Antonia wuchs und erblühte, und erraten, daß er das Mädchen irgendwann heiraten würde. Beiden war sie besonders verbunden, und sie wollte ihnen irgendein Sprungbrett verschaffen. Doch das Wichtigste war, daß Danus sie an Richard erinnert hatte. Sie mußte die verblüffende äußerliche Ähnlichkeit schon am ersten Tag bemerkt haben und von da an eine Bindung zu dem jungen Mann gespürt haben. Vielleicht hatten Danus und Antonia ihr das Gefühl gegeben, es böte sich ihr mit Hilfe der beiden eine neue Chance, glücklich zu werden, vielleicht hatte sie sich auf irgendeine Art mit ihnen identifiziert. Wie
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