Die Muschelsucher
beiseite. Was hatte es für Mama bedeutet? Sie nahm das Foto wieder zur Hand.
Ein Mann. In Uniform, aber barhäuptig. Er drehte sich gerade um und lächelte dem Fotografen zu, als habe er nicht damit gerechnet, geknipst zu werden, und um seine Schulter war ein Kletterseil geschlungen. Sein Haar war zerzaust, und in der Ferne, dort, wo das Meer endete, lief der graue Strich des Horizonts quer über die ganze Aufnahme. Ein Mann. Olivia kannte ihn nicht, doch er war ihr auf eine sonderbare Weise vertraut. Sie runzelte die Stirn. Eine Ähnlichkeit? Nein, weniger eine Ähnlichkeit als. Er erinnerte sie einfach sehr an jemanden. Aber an wen? Irgend jemand, den sie.? Aber natürlich. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Danus Muirfield. Nicht seine Züge, auch nicht seine Augen, sondern eine andere, subtilere Ähnlichkeit. Die Kopfform, die Neigung des Kinns. Die unerwartete Wärme seines Lächelns. Danus.
War dieser Mann vielleicht die Antwort auf die Frage, auf die weder Mr. Enderby noch Noel noch sie selbst eine Antwort hatten finden können?
Inzwischen äußerst neugierig und gespannt, nahm sie den Brief und faltete die dünnen Blätter auseinander. Das Papier war liniiert, und die Handschrift wirkte wie gestochen, fast schulmeisterlich, obgleich der Schreiber eine recht dicke Feder benutzt hatte.
Irgendwo in England, 20. Mai 1944
Meine geliebte Penelope!
Ich habe mich in den letzten Wochen ein dutzendmal hingesetzt, um Dir zu schreiben. Jedesmal kam ich nur höchstens vier Zeilen weit und wurde dann vom Telefon, einer Durchsage, einem Klopfen an der Tür oder irgendeiner dringenden Sache unterbrochen.
Aber jetzt ist an diesem gesegneten Ort endlich ein Augenblick gekommen, wo ich eine Stunde ungestört sein werde. Ich habe Deine Briefe alle erhalten und mich sehr darüber gefreut. Ich habe sie immer bei mir, wie ein liebeskranker Schuljunge, und lese sie wieder und wieder, wie oft, kann ich nicht mehr zählen. Wenn ich nicht bei Dir sein kann, kann ich Deiner Stimme lauschen.
Sie war sich ihres Alleinseins intensiv bewußt. Das Haus war leer und sehr still. Auch in Mamas Zimmer war es sehr still, eine Stille, die nur vom leisen Rascheln der gelesenen und zur Seite gelegten Blätter unterbrochen wurde. Die Welt, die Gegenwart war vergessen. Was sie gerade entdeckte, war die Vergangenheit, Mamas Vergangenheit, von der sie bis jetzt nichts geahnt hatte, die sie sich nicht hatte träumen lassen.
Es ist durchaus möglich, daß Ambrose sich wie ein Gentleman benimmt und in eine einvernehmliche Scheidung einwilligt. Wichtig ist nur, daß wir Zusammensein können und früher oder später - je früher, um so besser - heiraten werden. Der Krieg wird irgendwann zu Ende sein. Aber auch eine Wanderung von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt, und ein bißchen Nachdenken hat noch keiner Expedition geschadet.
Sie legte die Seite hin und nahm die nächste.
. Aus irgendeinem Grund habe ich keine Angst, daß ich den Krieg nicht überleben werde. Der Tod, der letzte Feind, scheint in weiter Ferne zu liegen, irgendwo jenseits von Alter und Hilflosigkeit. Und ich kann einfach nicht glauben, daß das Schicksal, das uns zusammengeführt hat, nicht dafür sorgen wird, daß wir zusammenbleiben.
Aber er war gefallen. Nur der Tod hatte eine solche Liebe beenden können. Er war gefallen, und er war nicht zu Mama zurückgekehrt, und alle seine Hoffnungen und Pläne für die Zukunft waren, das Opfer irgendeiner Kugel oder Granate, mit ihm gestorben. Er war gefallen, und sie hatte einfach weitergemacht. Sie war zu Ambrose zurückgegangen und hatte sich ohne Reue, Verbitterung oder einen Funken Selbstmitleid durch all die Jahre gekämpft, bis sie dann - wie viele Tage war es her? - hier in Podmore’s Thatch gestorben war. Und ihre Kinder hatten es nie erfahren. Oder auch nur geahnt. Niemand hatte es je erfahren. Das schien irgendwie das Traurigste von allem zu sein. Du hättest über ihn sprechen sollen, Mama. Du hättest es mir erzählen sollen. Ich hätte es verstanden. Ich hätte dir gern zugehört. Sie merkte zu ihrer Überraschung, daß ihre Augen voller Tränen waren. Nun flossen sie über und rannen ihre Wangen hinunter, und es war ein sonderbares und unbekanntes Gefühl, als widerfahre es einer anderen und nicht ihr selbst. Aber sie weinte um ihre Mutter. Ich wünschte, du wärst hier. Auf der Stelle. Ich möchte mit dir sprechen. Ich brauche dich.
Vielleicht war es gut, daß sie weinte. Sie hatte nicht um
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