Die Muschelsucher
so gut wie leer. Mrs. Plackett langte tief hinein. »Sehen Sie sich das an!« Sie hielt einen Bügel mit einem Kleid hoch, das sehr jugendlich wirkte, ein dünnes Fähnchen aus einem billigen, mit Gänseblümchen bedruckten roten Stoff, mit einem kleinen viereckigen Ausschnitt und ausgepolsterten Schultern. »Das habe ich noch nie gesehen.«
»Ich auch nicht. Ich möchte wissen, warum Mama das aufgehoben hat. Sieht aus, als hätte sie es im Krieg getragen. Tun Sie es am besten in den Müllsack, Mrs. Plackett.«
Die obere Schublade. Cremes und Lotions, Nagelfeilen, alte Parfümflakons, eine Puderdose, eine Puderquaste aus Federflaum. Eine Kette mit roten Glasperlen. Ohrringe. Wertloser Modeschmuck.
Und die Schuhe. All ihre Schuhe. Schuhe waren am schlimmsten von allem, viel, viel persönlicher als irgend etwas anderes. Olivia wurde immer unbarmherziger. Die Müllsäcke waren prall gefüllt.
Endlich war es geschafft, unter Schmerzen. Mrs. Plackett knotete die Plastiksäcke zu; sie wuchteten sie gemeinsam die Treppe hinunter und brachten sie hinaus zu den Mülltonnen. »Der Müllmann kommt morgen früh und nimmt sie mit.« Als sie wieder in der Küche waren, zog Mrs. Plackett ihren Mantel an.
»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, Mrs. Plackett.« Olivia sah zu, wie die treue Seele ihr Deckscape sorgfältig zusammenlegte und in eine Einkaufstüte steckte. »Ich hätte es allein nicht über mich gebracht.«
»Keine Ursache, es war das mindeste, was ich tun konnte. Aber ich muß jetzt los. Sonst kriegt Mr. Plackett kein Mittagessen. Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt zurück nach London, und geben Sie gut auf sich acht, Miss Keeling. Versuchen Sie, sich ein bißchen auszuruhen. Es war ein anstrengendes Wochenende.«
»Ich ruf Sie an, Mrs. Plackett.«
»Tun Sie das bitte. Und kommen Sie gelegentlich wieder und besuchen Sie uns. Es ist kein schöner Gedanke, daß ich Sie nicht wiedersehen werde.«
Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und fuhr, kerzengerade im Sattel sitzend, mit der Einkaufstüte am Lenker baumelnd, fort. Olivia ging wieder hinauf in Mamas Zimmer. Ohne all die persönlichen Dinge wirkte es unglaublich leer. Bald würde Podmore’s Thatch verkauft sein, und dieses Zimmer würde einem anderen Menschen gehören. Andere Möbel würden hier sein, andere Kleidungsstücke, andere Gerüche, eine andere Stimme, ein anderes Lachen. Sie setzte sich aufs Bett und sah die frischen grünen Blätter der blühenden Kastanie hinter dem Fenster. Irgendwo in den Zweigen versteckt sang die Drossel.
Sie schaute sich um. Sah den Nachttisch, die weiße Porzellanlampe mit dem gefalteten Pergamentschirm. In dem Nachttisch befand sich eine kleine Schublade. Die hatten sie übersehen und deshalb nicht ausgeräumt. Sie zog sie auf und fand ein Fläschchen mit Aspirintabletten, einen einsamen Knopf, einen Bleistiftstummel, einen alten Taschenkalender. Und ganz hinten lag ein Buch. Sie langte in die Schublade und holte es heraus. Ein dünnes, blau eingebundenes Buch. Herbsttagebuch von Louis MacNeice. Drinnen schien so etwas wie ein dickes Lesezeichen zu liegen, und der schmale Band klappte von selbst an der Stelle auf, wo es steckte. Sie entdeckte einige mehrmals gefaltete dünne gelbe Blätter. vielleicht ein Brief? Und ein Foto.
Es war das Foto eines Mannes. Sie warf einen kurzen Blick darauf, legte es dann beiseite und faltete den Brief auseinander, wurde aber von einigen Versen eines Gedichts abgelenkt, die ihren Blick magisch anzogen, so wie ein vertrauter Name einen aus den Zeilen eines Zeitungsartikels anspringt.
Der September ist da, er gehört ihr,
Deren Leben stark wird im Herbst,
Deren Wesen enblätterte Bäume
und ein Feuer im Herde schätzt.
So gebe ich ihr diesen Monat, und den nächsten
und weiß doch genau, daß mein Jahr ihr gehört.
Wie die Tage, unerträglich so viele, verhext,
Und doch viele der Tage so glücklich,
Viel mehr glückliche Tage durch sie.
Durch die ein Duft über mein Leben gekommen ist.
Deren Schatten auf meinen Wänden haftet und tanzt, tanzt
Deren Haar in allen meinen Wasserfällen strömt
Deren Küsse meine Erinnerung in ganz London findet.
Das Gedicht war ihr nicht neu. Sie hatte MacNeice als Studentin in Oxford entdeckt, ihn lieben gelernt und alles gelesen, was er je geschrieben hatte. Und heute, nach so vielen Jahren, war sie wieder genauso bewegt und fasziniert wie damals bei ihrer ersten Begegnung mit dem Gedicht. Sie las es noch einmal, und dann legte sie das Buch
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