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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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gefüllt. Sperrballons schwebten über der Stadt, und überall lauerten von Netzen getarnte Flak-Geschütze, deren Besatzung rund um die Uhr bereit war, die feindlichen Bomber vom Himmel zu holen.
    Ein vernünftiger Vorschlag zur rechten Zeit, aber er hatte eine sonderbare Wirkung auf Willi Friedmann.
    Er sagte: »Ja.« Er stellte abrupt sein Glas hin und erhob keine Einwände, als Peter ihm wortlos nachschenkte. Er begann zu reden. Er dankte Sophie. Er dankte Elizabeth für all ihre Freundlichkeit. Ohne Elizabeth wäre er jetzt obdachlos. Ohne Menschen wie Elizabeth und Peter wären Lalla und er jetzt wahrscheinlich schon tot. Oder, schlimmer noch.
    Peter sagte: »Oh, ich bitte Sie, Willi.« Aber Willi schien nicht zu wissen, wie er aufhören sollte. Er hatte seinen zweiten Cognac ausgetrunken und war nun so weit, daß er selbst nach der Flasche griff und sich neu einschenkte. Lalla saß regungslos da und sah ihren Mann mit großen dunklen Augen an, die voller Grauen waren, aber sie versuchte nicht, ihn zum Schweigen zu bringen. Er redete. Die Worte kamen zuerst stockend, aber dann schwollen sie zu einem Strom an, und die fünf anderen saßen wie hypnotisiert und lauschten ihm. Penelope sah Peter an, aber Peter, der ein ernstes und gespanntes Gesicht machte, hatte nur Augen für den armen jungen Mann, der wie von Sinnen zu sein schien. Vielleicht wußte Peter, daß er reden mußte. Daß irgendwann alles aus ihm heraus mußte, und warum dann nicht jetzt, in der Geborgenheit dieses warmen Zimmers, unter Freunden.
    Er redete weiter und weiter und erzählte immer mehr, Dinge, die er gesehen hatte, Dinge, die er gehört hatte, Dinge, die seinen Freunden zugestoßen waren. Nach einer Weile wollte Penelope nicht mehr zuhören und hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten und die Augen geschlossen, um die schrecklichen Bilder fernzuhalten. Aber sie hörte dennoch weiter zu und wurde immer mehr von einem Abscheu und Entsetzen überwältigt, das keinerlei Ähnlichkeit mit alldem hatte, was man empfand, wenn man die Wochenschau sah oder die Nachrichten im Radio hörte oder die Zeitung las. Mit einem Schlag wurde es persönlich, und sie meinte, einen eisigen Hauch im Nacken zu spüren. Die entfesselte Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber seinem Nächsten war eine obszöne Realität, und für diese obszöne Realität war jeder einzelne von ihnen verantwortlich. Das war es also, was das Wort KRIEG beinhaltete. Es bedeutete nicht nur, daß man eine Gasmaske bei sich haben und abends verdunkeln mußte und daß man über Miss Pawson kicherte und die Bodenkammer für Zwangsmieter herrichtete, nein, es war ein unsagbar schlimmerer Alptraum, aus dem es kein erleichtertes Erwachen geben konnte. Es mußte bekämpft werden, und das konnte man nicht, indem man davonlief oder den Kopf in den Sand steckte, sondern nur, indem man zum Schwert griff und dem Bösen entgegentrat. Sie hatte kein Schwert, doch am nächsten Morgen ging sie zeitig aus dem Haus, nachdem sie zu Sophie gesagt hatte, sie wolle Besorgungen machen. Als sie kurz vor dem Lunch mit ostentativ leeren Händen zurückkam, war Sophie verwirrt.
    »Ich dachte, du wolltest einkaufen gehen.«
    Penelope zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und sah ihre Mutter über den Küchentisch hinweg an und sagte, sie sei so lange herumgelaufen, bis sie ein Rekrutierungsbüro gefunden habe, und sie sei hingegangen und habe sich für die gesamte Dauer des Krieges für das Frauen-Marinehilfskorps verpflichtet.

Verstohlen, wie widerstrebend, graute der Morgen. Penelope war endlich wieder eingeschlafen, um in einem Dunkel zu erwachen, das sich stumpfgrau verfärbte, und da wußte sie, daß es Morgen wurde. Es war sehr still. Kühle Luft drang durch das offene Fenster, und in dem rechteckigen Ausschnitt reckte die Kastanie ihre nackten Zweige in den düsteren verhangenen Himmel. Das Cornwall von früher beschäftigte ihre Gedanken immer noch wie ein intensiver Traum, doch während sie dalag, spürte sie, wie der Traum seine Schwingen zusammenlegte und langsam in die Ferne, in die Vergangenheit, wohin er vielleicht gehörte, zu entschwinden begann. Ronald und Clark waren keine kleinen Jungen mehr, sondern erwachsene Männer, die in die Welt hinausgegangen waren. Ihre Mutter war nicht mehr Doris Potter, sondern Doris Penberth, inzwischen fast siebzig Jahre alt, und lebte nun schon seit vielen Jahren in einem kleinen weißen Haus in Downalong, in dem kopfsteingepflasterten Labyrinth schmaler

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