Die Muse des Mörders (German Edition)
jahrzehntelang, wenn sie muss. Die Essenz ihrer Liebe ist
Madeleine nahm die Lesebrille ab und rieb sich die schmerzenden Augen. Es war sinnlos, ihr würde heute Nacht nichts mehr einfallen. Sie konnte sich einfach nicht auf diese Liebesgeschichte einlassen, obwohl sie seit mehr als vierzig Jahren erfolgreich Liebesromane veröffentlichte. Sie blickte auf die Post-its, die den Tiffanyschirm ihrer Schreibtischlampe fast zur Hälfte bedeckten. Die meisten ihrer Romane entstanden aus Notizen, aus denen sie dann im Kopf ein Netz spann, bis es so dicht war, dass ihre Leser sich darin verfingen und erst loskamen, wenn sie die letzte Zeile gelesen hatten.
Heute Nacht war ihr Kopf aber wie leer geblasen und sie konnte sich nicht einmal das Bild der am Bahnhof stehenden Schönheit vergegenwärtigen, während sie die Zeilen las. Ihr Kopfkino hatte geschlossen. Sie wusste, dass es so keinen Sinn machte, weiterzuarbeiten, also schloss sie das Dokument und fuhr den Computer herunter. Zwar mochte sie es nicht, mitten im Satz aufzuhören, doch die einzige Inspirationsquelle, aus der sie im Moment schöpfen konnte, war ein finsterer, hartnäckiger und noch dazu prophetischer Traum.
Es war halb fünf und sie sollte zu Bett gehen. Seit Tagen hatte sie kaum schlafen können, weil sie fürchtete, einen Anruf aus dem Krankenhaus zu verpassen. Vergangenen Sonntag hatte der Arzt sie gewarnt, dass von nun an mit dem Schlimmsten zu rechnen sei. Wenn sie Pech hatte, kam der Anruf genau dann, wenn sie schlief. Lucy hatte ohnehin einen festen Schlaf und würde das Läuten nicht hören. Madeleine wusste, dass sie es sich nie verzeihen würde, wenn sie zu spät kam. Also war sie die meiste Zeit wach, doch jetzt musste sie vernünftig sein. Sie wusste, was der Traum hatte ankündigen wollen, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte. Der morgige Tag würde vermutlich sehr hart werden und sie musste ihre Batterien dafür aufladen.
Madeleine stand auf und verzog den Mund, als ein Schmerz durch ihre Wirbelsäule zuckte. Mit steifen Gliedern ging sie zum Fenster, um es zu schließen. Wenn sie arbeitete, stand es meist offen, damit die Geräusche von draußen sie inspirieren konnten. Heute war es aber so ruhig, dass sie das Gefühl hatte, die Stadt sei verwaist. Sie packte den Metallgriff und schob das Fenster zu.
Für einen Moment blieb sie stehen und blickte in die Nacht. Trotz des vertrauten Ausblicks blieb ihr die unheilvolle Atmosphäre nicht verborgen, die sich über die Straßen gelegt hatte. Wie in ihrem Traum waren die vielen Fenster dunkel und sie konnte sich alle möglichen Szenarien ausmalen, die sich auf der leeren Bühne der Stadt abspielen mochten. Die Geschehnisse der letzten Monate hatten gezeigt, dass es keine Abscheulichkeit gab, zu der die Menschen nicht fähig waren.
Madeleine schloss die Gardinen, knöpfte ihre Strickjacke zu und kehrte zum Schreibtisch zurück, um das Licht auszuknipsen. Die Dunkelheit passte zu der Stimmung in ihrem Inneren. Überall war Verfall. Ihr Herz fühlte sich traurig an und sie bedauerte einmal mehr, dass es ihr heute Nacht nicht gelingen wollte, sich in ihren aktuellen Roman zu flüchten, der immerhin ein Happy End haben würde.
Sie verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Für einen Moment stand sie da und horchte in die Stille hinein. Vage vernahm sie Lucys Atemzüge, ihr Hausmädchen schlief offenbar.
Es sprach also nichts dagegen, dass sie sich in der Küche noch einen Tee genehmigte, bevor sie zu Bett ging. Earl Grey mit einem Schuss Rum war seit jeher das Rezept gegen Schlaflosigkeit, welches in ihrer einst großen Familie von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Lucy war der Meinung, dass Menschen in Madeleines Alter dem Alkohol entsagen sollten. Ihr Hausmädchen hatte aber, soweit Madeleine wusste, noch nie Probleme gehabt, nachts Ruhe zu finden. Trotzdem kam sie sich albern vor, als sie wie ein Teenager, der sich über ein elterliches Verbot hinwegsetzt, die Treppe hinunter in die Küche schlich, wo sie einen Kessel mit Wasser aufsetzte.
3.
Seine Kollegen hatten eine Weile gebraucht, um das leerstehende Haus im Wald hinter der Höhenstraße zu finden. Jetzt wimmelte es in dem alten Gemäuer von Polizeibeamten und Bediensteten der Spurensicherung, die jeden Winkel durchsuchten und alles mit Rußpulver bestäubten.
Eigentlich hätte Dominik aufatmen können, doch der tote Säugling wollte ihm keine Ruhe lassen. Alle bisher verzeichneten Opfer, die
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