Die Muse des Mörders (German Edition)
war nicht so, dass sie das Mitgefühl der Leute nicht zu schätzen wusste. Sie war nur schon immer besser darin gewesen, die Dinge mit sich selbst auszumachen.
Der Pfarrer stand am Kopfende des frisch ausgehobenen Grabes, die Hände vor dem Bauch verschränkt, und sprach mit fester Stimme ein Gebet. Vor ihm war eine Schale mit Rosenblüten und Erde aufgebaut, in der eine Schaufel steckte.
Madeleine blickte auf die einzelne weiße Rose in ihren Händen. Auf dem Boden wand sich ein Regenwurm. Madeleine wusste, dass es nicht stimmte, dass die Toten von Würmern und Maden gefressen wurden, vielmehr zersetzten sie sich selbst, aus sich heraus, und gaben sich so freiwillig dem Verfall hin. Für andere mochte dieser Umstand nur eine andere Abstufung von eklig bedeuten, doch für sie hatte der Gedanke etwas Tröstliches. Der Tod zerstörte die Verstorbenen nicht. Sie zerfielen freiwillig, um wieder zu etwas Fruchtbarem zu werden. So bekam der Tod einen Sinn. Sie schaute auf und merkte, dass der Pfarrer, ein Mittfünfziger mit rabenschwarzen Haaren, sie direkt ansah.
»Aus der Erde hat Gott uns genommen und zu Erde sollen wir wieder werden«, sagte er leise, doch in der Stille des Friedhofs gut hörbar. Als habe er ihre Gedanken gelesen.
Sie senkte den Blick hinunter auf den Sarg, der bereits hinabgelassen worden war. Sie hatte darauf verzichtet, ihn offen aufbahren zu lassen. Das Bild, das gestern im Hawelka an Paul erinnert hatte, war die Gestalt, in der die Menschen ihn im Gedächtnis behalten sollten.
»Erde zu Erde …« Der Pfarrer griff in die Schale, ließ eine kleine Handvoll Erde auf den hölzernen Sarg rieseln und Madeleine hörte jemanden hinter sich schluchzen. »… Asche zu Asche …« Eine zweite Handvoll Erde. Der Wind hatte gedreht und ein paar Krümel landeten auf ihren cremefarbenen Schuhen. Als Einzige hier war sie nicht in Schwarz gekommen. Sie hatte noch nie eine Beerdigung in Schwarz besucht, denn sie verstand nicht, was das sollte. Als wäre sie trauriger, nur weil sie Schwarz trug. Als könnte irgendjemand das Befinden eines Menschen an der Farbe seiner Kleidung ablesen.
»… und Staub zu Staub.« Der Pfarrer ließ die dritte und letzte Schaufel voller Erde ins Grab rieseln und trat dann zurück. Ihr gefiel die Ruhe, die er ausstrahlte. Sie hatte das schon öfter bei Kirchenvertretern beobachtet. Von ihnen ging eine Überzeugung aus, als wüssten sie, dass am Ende immer alles gut wurde.
Er nickte Madeleine mit einem kurzen Lächeln zu und sie trat vor, darauf bedacht, den verletzlichen Regenwurm nicht zu zertreten. Bei ihren ersten Beerdigungen, und sie hatte in den letzten Jahren einige besucht, hatte sie geglaubt, sie müsste in diesem finalen Moment, kurz bevor das Grab sich für immer schloss, etwas Besonderes denken, einen letzten Gruß, ein paar aufrichtige letzte Worte.
Mittlerweile wusste sie, dass das Unsinn war. Was sie zu Lebzeiten nicht gesagt hatte, musste sie auch der leeren Hülle nicht hinterherrufen, denn die war nichts als ein tauber und stummer, in Auflösung begriffener Organismus.
Aufrecht stand Madeleine am Rand des Grabes und malte sich Pauls Gesicht aus, sein gütiges Lächeln und die kleinen Lachfalten um seine Augen. Sie streckte die Hand aus und ließ die Rose fallen.
Im selben Moment hörte sie Schritte, die sich schnell und kraftvoll dem Ort der Zeremonie näherten. Sie blickte sich nervös um und trat automatisch zurück, um den anderen Gästen Platz zu machen. Während die Frauen Blüten in die Grube warfen und die Männer es ihnen mit Erde gleichtaten, entdeckte Madeleine ihn.
Er näherte sich über den breiten Schotterweg. Mit dem Licht der sinkenden Sonne im Rücken war er nur eine Silhouette, doch sie musste sein Gesicht nicht erkennen, um zu wissen, wer er war. Auch die anderen Trauernden schauten jetzt in die Richtung, aus der die Schritte kamen, und Madeleine beeilte sich, auf den Fußweg zu treten und ihrem Bruder Georg entgegenzugehen.
»Sie sind spät dran«, sagte der Pfarrer und wirkte ein wenig beleidigt.
Madeleine blieb mit verschränkten Armen stehen und ließ Georg die letzten Schritte auf sich zukommen. Er war erstaunlich gut in Schuss für seine achtzig Jahre. Sein Leben lang war er schlank geblieben und sein maßgeschneiderter brauner Anzug saß beinahe makellos. Die schlohweißen Haare hatte er lässig zurückgekämmt und seine Augen, die denen Madeleines in Form und Farbton glichen, wanderten über die dunkle Masse
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