Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
Vom Netzwerk:
wir.«
    Während sie die Rückseite des kurzen Blocks abschreiten,
erkennt Jesse, was sie meint: die hoch am Himmel stehenden,
bösartigen grünen Wolken, deren schwarze Grundflächen
wie ein Amboß wirken, scheinen überhaupt nichts mit der
Welt hier unten gemein zu haben. Kein Lufthauch regt sich mehr, und
die Wolken werden immer dicker und schwerer.
    Er versucht sich an die Terminologie zu erinnern, die er von
Diogenes gelernt hat. Die großen, schweren Wolken heißen
Cumulonimbus; sie sind unten dunkel und fasern oben amboßartig
aus, weil von der Basis ein Strom Warmluft nach oben gerissen wird,
und die Wolke wirkt wie ein Van-de-Graaff-Generator, in dem die
Ladungen getrennt werden und ein Potential für Blitze entsteht.
Und diese Wolkenbank wird Gewitterfront genannt? Scheint
gerechtfertigt. Und irgendwo dahinter rückt die eigentliche
Sturmfront heran… nein, nur bei normalen Stürmen,
korrigiert er sich. Aber dennoch wird der Wind stärker
werden…
    Sie haben das Haus noch nicht erreicht, als der Regen schon
zuschlägt – und ›zuschlagen‹ ist hier die einzig
korrekte Bezeichnung -; sie haben den Eindruck, plötzlich einen
kalten Guß aus einem Feuerwehrschlauch abzubekommen. Kurz
darauf setzen erste, heftige Windböen ein, und obwohl sie
losrennen und Mary Ann schon den Schlüssel in der Hand hat, sind
sie nach den letzten zehn Metern naß bis auf die Haut.
    »Die Sichtweite beträgt ja nicht mal mehr einen
Meter«, sagt Mary Ann keuchend.
    »Bei diesem Wetter kommt sowieso kein Bus durch«,
mutmaßt Jesse. »Ich bin wirklich froh, daß du so
teuer wohnst; zahlst du vielleicht noch einen Zuschlag für die
dicken Mauern?«
    »Das Haus ist aus Sicherheitsgründen verstärkt
worden, aber ich weiß nicht genau, was daran gemacht
wurde«, entgegnet Mary Ann und lehnt sich an ihn. Er legt einen
Arm um sie. Er versucht, sie zu beruhigen und ist gleichzeitig
dankbar, daß er jemanden zum Beruhigen hat, denn damit lenkt er
sich von seiner eigenen Angst ab.
    Der Regen strömt an den Fenstern herab, wie das Wasser in
einer Autowaschanlage über die Windschutzscheibe.
    »Schätze, wir gehen lieber in einen Innenraum«,
schlägt Jesse vor. »Hier gibt es nichts zu sehen.«
    Sie nickt. »Das Haus hat eine eigene Stromversorgung, und der
Kühlschrank ist gut gefüllt. Wir überstehen hier ein
paar Tage, falls der Sturm nicht zu uns hereinkommt.«
    »Was ist mit den Fenstern?«
    »Es ist kaum zu glauben, aber Passionet hat Angst vor
Heckenschützen, seit Kimber Lee Melodion erschossen wurde. Die
Scheiben sind viel dicker als normale Fenster.«
    Der Regen brandet gegen die Fenster; die Sicht durch die Scheibe
(die nichts enthüllt außer grauem Licht und einem
häßlichen grauen Schemen dahinter) gleicht dem Blick von
einem Flußbett an die Wasseroberfläche. »Äh,
sind denn auch die Fenster rahmen verstärkt
worden?«
    »Nicht, daß ich wüßte.«
    »Dann laß uns in einen Innenraum gehen.«
    Der Wind und der Regen verursachen einen solchen Lärm,
daß sie erst beim Betreten der Küche sehen, daß sich
noch jemand im Haus aufhält. Aber es sind nur Señora
Herrera, ihr Mann Tomás und eine Kinderschar. »Ich bitte
um Entschuldigung, Madame…«, sagt sie sogleich.
    »Unsinn«, wiegelt Mary Ann ab. »Der Bus ist ja
nicht gekommen, und das Haus bietet einen guten Schutz vor dem Sturm.
Und überhaupt war es vernünftig, daß Sie und
Tomás hergekommen sind. Und selbst mit den Kindern werden die
Vorräte vielleicht eine Woche reichen. Aber…
ähem… ich wußte gar nicht, daß Sie so
viele… sind das denn alles Ihre Kinder?«
    Señora Herrera dolmetscht für ihren Mann, der kein
Englisch spricht, und er lacht. Dann wendet sie sich wieder Mary Ann
zu und erklärt es ihr: »Nein, unsere sind schon erwachsen.
Das sind Nichten und Neffen und Enkelkinder, Madame.«
    Mittlerweile hat Jesse sie durchgezählt; es sind sechs an der
Zahl. Da er weiß, daß der große Kühlschrank
gerade erst aufgefüllt worden ist, macht er sich wegen der
Verpflegung keine Sorgen, und schließlich ist Mary Ann die
Gastgeberin, so daß er sich mit der Situation arrangieren
muß. Dennoch ist er ein klein wenig eifersüchtig; er hatte
eigentlich gehofft, das Haus mit Mary Ann für sich allein zu
haben.
    Das verursacht ihm ein Schuldgefühl, und solche Gefühle
lösen jetzt immer eine Assoziation mit Naomi aus. Nun, wenn sie
halbwegs bei Verstand war, hat sie Tehuantepec heute gemieden, und
wenn sie ganz bei Verstand war, ist sie nach Oaxaca

Weitere Kostenlose Bücher