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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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zu sagen; aber
schließlich kommt ihr ein Ausspruch von Jesse in den Sinn
– als ihm zum ersten Mal eine Frau einen Orgasmus verschafft
hatte, hat er vorgetäuscht, sich selbst stimuliert zu haben.
Also versucht sie sich einzureden, sie würde jemand anders
verteidigen. Als ob Naomi eine andere Frau wäre, die von diesen
Männern beleidigt wird…
    Dann sagt sie es ihnen. Sie versuchen nicht einmal, sie davon
abzubringen; sie gehen einfach weiter und sind nach wenigen Minuten
hinter dem Hügel verschwunden, während sie gemütlich
einherschlendert.
    Nun, da sie eine langsamere Gangart angeschlagen hat, fällt
ihr auf, daß es heute unangenehm heiß ist, was für
diese Jahreszeit aber nicht ungewöhnlich ist; wenigstens scheint
die Sonne. Der Wald, der die Hügel zuvor bedeckt hatte, ist
gefällt worden, wobei jeder Hang von schlammigen Schneisen
gezeichnet ist, die von Sturmböen, Sturzbächen und
Erdrutschen geschlagen wurden. Die meisten Bäume haben ihr Laub
verloren, so daß die Schwarz- und Brauntöne der von Wind
und Wasser erodierten Hänge nur noch punktuell von
tiefgrünen Farbtupfern durchsetzt sind.
    Sie erblickt die Überreste kleiner Farmen, die überall
dort angelegt worden waren, wo das Gelände eben genug war; es
wird lange dauern, sagt sie sich, bis die Bauern hier wieder etwas
anbauen. Falls es hier überhaupt noch Bauern gibt.
    Sie hat weitere vier Kilometer in diesem gemütlichen Tempo
zurückgelegt, sich mit Sonnenschutzmittel eingerieben und die
Bluse um die Hüfte gebunden, als sie hinter sich ein Auto
hört. Die Transponder der Leitsysteme sind ausgefallen und
werden wohl so schnell auch nicht wieder einsatzbereit sein, so
daß das Fahrzeug manuell gesteuert werden muß. Vielleicht
ist es ein Armee-Jeep.
    Ihr ärmelloses Oberteil ist etwas knapp geschnitten; sie
überlegt, ob sie nicht vielleicht wieder die Bluse anziehen
sollte, aber das wäre ihr jetzt zu viel Aufwand.
    Was da hinter ihr den Hügel heraufkommt, ist indes weder ein
Jeep noch ein Behördenfahrzeug und auch kein Rettungswagen. Ein
solches Fahrzeug hätte sie hier jetzt am allerwenigsten erwartet
– einen nagelneuen, offenbar frisch gewaschenen GM-Luxrover,
einer dieser großen, luxuriösen Geländewagen, der von
den imperialistischeren corporados und Prominenten aus
Wirtschaft und Politik bevorzugt wird. Der Wagen ist mit Kennzeichen
bestückt, die es als amerikanisches Fahrzeug mit internationaler
Reisetätigkeit ausweisen. Wegen der getönten Scheiben sieht
sie nicht, wer oder was sich im Innenraum befindet. So, wie der
Fahrer den Hügel heraufrast, scheint er es eilig zu haben; als
er aber auf gleicher Höhe mit Naomi ist, bremst er
plötzlich ab und fährt vor ihr an den
Straßenrand.
    Sie geht auf das Auto zu; was sollte sie auch sonst tun. Es
spricht nämlich alles dafür, daß es sich um einen
netten Touristen handelt, vielleicht männlichen Geschlechts, der
das schöne Kind gesehen hat und glaubt, daß sie vielleicht
eine Mitfahrgelegenheit braucht; andererseits könnte es aber
auch ein potentieller Vergewaltiger sein, und sie bekommt es mit der
Angst zu tun, aber dann wägt sie das geringere Risiko einer
Gefahr gegen die größere Chance eines netten Mannes ab.
Außerdem verfügt das Auto sicher über eine
Klimaanlage, und so, wie ihr die Beine jetzt schon weh tun, wird sie
gewiß mit Blasen an den Füßen in Ixtepec
ankommen.
    Zum Teufel, sie hat ›Clem Zwei‹ überlebt und wird
wohl auch noch mit einem kleinen, alten, irren Vergewaltiger fertig
werden, falls es überhaupt so weit kommen sollte.
    Die Tür des Luxrovers schwingt auf, und der Fahrer steigt
aus. Er ist um die Dreißig und trägt einen makellosen
Sommeranzug, wie sie in den kleinen CADCAM-Studios in Oaxaca
gefertigt werden, aber bei näherem Hinsehen – ja, er
besteht tatsächlich aus Seide. Und da steckt doch wirklich eine
frische Crysantheme im Knopfloch. Wenn er eine gelbe Blume
trägt, dann ist er sicher kein Mexikaner und wird auch noch
nicht lange im Land sein…
    Außerdem trägt er eine große dunkle Sonnenbrille.
Sein Haar ist sehr kurz, und er hat eine ziemlich kleine Nase. Und
zudem ist der Mann spindeldürr. Alles in allem erweckt er den
Eindruck eines großen Käfers.
    »He, willst du mitfahren?« fragt er sie auf englisch.
Seine Stimme hat diesen jammernden, dünnen Klang, den sie mit
erfolglosen Geschäftsleuten assoziiert.
    »Sie sind Amerikaner«, sagt sie, obwohl sie es bereits
weiß. Mit dieser Eröffnung gewinnt sie erst einmal

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