Die Mutter aller Stürme
den ersten Schock überwunden hat, sagt er:
»Nun, dann – sag mir, Di… kann man überhaupt
etwas tun. Wird es denn wenigstens versucht?«
Di zuckt die Achseln. »Natürlich versuchen die Leute,
etwas zu tun.«
Das klingt indes nicht sehr überzeugend. Es gibt wirklich
keinen Grund, die Rückreise anzutreten. Hier in Chiapas hat er
seine Bekannten. Und in den Bergen oder im Regenwald könnte man
auch ganz gut überleben, wenn es denn sein müßte. Es
überkommt ihn das Gefühl, daß er vielleicht gerade
darüber entscheidet, wo seine Enkelkinder leben werden.
Hier könnte er es aushalten – er ist gesund und scheut die
Arbeit nicht; außerdem spricht er mittlerweile fließend
Spanisch und verfügt über einige Talente, die hier
vielleicht gefragt sind, obwohl an Realisations-Ingenieuren vorerst
wohl kein Bedarf besteht. »Dann werde ich hier unten bleiben,
Di. Es gefällt mir hier, und sicher ist es auch.«
»Äh… ist da ein Mädchen im Spiel?«
»Du kennst mich doch. Nein, eigentlich nicht. Ich glaube,
ihre Arbeitgeber holen sie bald wieder aus dem Urlaub. Und im Grunde
ist sie auch gar kein Mädchen, sondern eine Frau. Sie ist…
äh… eher in deiner Altersklasse als in meiner.«
Di stößt einen Pfiff aus und blinzelt ihm zu. »Kuu
kuu ka tschuu, Mrs. Robinson.«
»Was?«
»Ich weiß auch nicht, was das heißen soll, aber
Dad hat das immer gesagt, wenn er einen jüngeren Mann mit einer
älteren Frau sah.«
»Das muß er sich aber schon vor meiner Geburt
abgewöhnt haben.«
»Richtig. Eigentlich müßte ich jetzt wieder an die
Arbeit, aber im Augenblick dokumentieren wir nur dieses
fürchterliche Chaos im Golf, und ich kann dir sagen, es ist eine
wahre Wohltat, sich mal mit jemand anders zu unterhalten. Wir
können nur zusehen, wie der Sturm größer
wird…« Di seufzt. »Aber genug davon. Paß auf
dich auf. Du bist zwar schon erwachsen, aber trotzdem bist du immer
noch mein kleiner Bruder. Diese Alte, mit der du zusammen
bist…«
»He!«
»… kenne ich sie vielleicht?«
Weil Jesse befürchtet, daß sein Bruder ihn in die
Psychiatrie einweisen lassen würde, wenn er ihm von Synthi
erzählte, verneint er diese Frage: »Ich glaube nicht.
Kennst du eine Schauspielerin namens Mary Ann Waterhouse?«
»Nie von ihr gehört. Sag ihr, sie soll gut auf meinen
kleinen Bruder aufpassen, ja?«
»Gut. Und du hast ein Auge auf meine Neffen.«
Sie verabschieden sich mit einem pseudomilitärischen
Gruß. Dann lehnt Jesse sich nachdenklich zurück; das hatte
sich ganz nach einem Lebewohl angehört, und diese Vorstellung
behagt ihm gar nicht. Und doch – nun, die Satelliten stehen noch
immer dort oben, unberührt von den Unbilden der Witterung, und
es gibt viele unterirdische Glasfaserleitungen… selbst wenn die
Zivilisation zusammenbricht, wird das Netz noch für lange Zeit
funktionieren.
Er hat die Vision, daß Mary Ann und er mitten im Dschungel
einen kleinen Garten bestellen, wobei sie als einziges Hilfsmittel
über einen angespitzten Stock verfügen; währenddessen
ist Mary Ann auf Sendung, so daß weltweit Millionen Menschen,
deren eigene Gärten verwildert sind, in ihren Hütten an der
Erfahrung teilhaben, mit einem spitzen Stock Gartenarbeit zu
verrichten.
»Worüber lachst du denn?« fragt Mary Ann, die
gerade aus der Dusche kommt. Ihr vollendeter Körper beeindruckt
ihn nach wie vor.
»Ach, ich habe gerade mit meinem Bruder telefoniert. Er ist
wirklich ein Spaßvogel.«
Zu dem Zeitpunkt, als sie ihre Sachen aus dem kleinen Bungalow
holen, ist Naomi zu dem Schluß gelangt, daß Erics
Weltsicht sich grundlegend von der ihren unterscheidet. Sie
weiß indessen nicht, welche Konsequenzen sie aus dieser
Erkenntnis ziehen soll – er ist höflich und geht auf sie
ein, aber weil sie den Leuten abgeschworen hat, die mit ihren Werten
hausieren gehen, merkt sie plötzlich, wie wenig sie im Grunde zu
sagen hat. Sie ist schon an vielen Orten gewesen, wobei sie aber
meistens direkt vom Zipline in irgendein Armenviertel
marschiert ist; aus diesem Grund kann sie ihm zwar etwas über
die Slums in diversen Städten erzählen, sonst aber auch
nichts – und Slums sehen überall gleich aus.
Sie findet die kurze Nachricht von Jesse; nach kurzer
Überlegung verschiebt sie die Antwort auf später –
Eric bringt bereits ihre Sachen zum Auto, und sie will nicht,
daß er die ganze Arbeit allein macht.
Als sie die Stadt verlassen, erzählt Eric ihr vom Museum in
Oaxaca, in dem viele Artefakte ausgestellt sind,
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