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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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ihm nicht schwer, dieses Konstrukt als
›Schiff‹ zu betrachten, zumal er aufgrund seiner
verstärkten Prognosekapazität mit über
fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit davon ausgeht, daß
in der Zukunft nur noch solche Konstruktionen die Bezeichnung
›Schiff‹ tragen werden.
    Für diese Überlegungen stellt er nur eine sehr geringe
Kapazität ab – in etwa das Äquivalent eines Dutzend
Poeten, die ein Jahrhundert lang debattieren –, bis er sich
schließlich für einen Namen entscheidet, der seines
Erachtens den mit der Expedition verbundenen Hoffnungen am besten
entspricht: die Good Luck.
    Seit siebzig Jahren schon läßt die Geschichte sich
nicht mehr anhand spezifischer Personen und Ereignisse definieren; so
gibt es zum Beispiel keine Antwort auf die Frage ›Wer hat den
Computer erfunden?‹ oder ›Wie lange dauerte der Dritte
Balkan-Krieg‹? Deshalb ist es auch kaum verwunderlich, daß
niemand genau weiß, wann die Good Luck abfliegt; es
steht nicht einmal fest, wann sie ›fertiggestellt‹ wurde.
Bojen, die später in sie integriert werden, waren bereits am 1.
Juli in den solaren Orbit katapultiert worden, andere Baugruppen
waren am 10. Juli zu verschiedenen Asteroiden unterwegs, und viele
Komponenten werden erst dann zur Verfügung stehen, wenn das
Schiff schon wieder auf dem Rückflug ist.
    Doch wenn ein bestimmtes Datum benötigt wird, dann ist der
20. Juli 2028 – auf den Tag genau neunundfünfzig Jahre nach
der ersten Landung auf dem Mond – genauso gut wie jedes andere.
An diesem Tag, Mitteleuropäische Zeit, erreicht die von Louie
Tynan geflogene Constitution die Fluchtgeschwindigkeit von der
Erde.
    Schon diese Definition ist problematisch. Louie Tynan ist sich
nämlich gar nicht sicher, ob der Mensch, der da in der Constitution schwebt, wirklich ›Louie Tynan in
Person‹ ist. In letzter Zeit fühlt er sich eher wie ein
großer, sehr komplexer und zugleich langsamer und
unzuverlässiger Parallelprozessor. Mittlerweile steckt schon so
viel von seiner Substanz in den Prozessoren auf dem Mond, daß
er das Abflugsdatum lieber als den Zeitpunkt definieren sollte, an
dem er merkte, daß Louie-das-Schiff nicht mehr ein Teil von
Louie-auf-dem-Mond war, sondern mit ihm kommunizierte, und das war
nicht vor dem achtundzwanzigsten Juli der Fall.
    Aber in der Zwischenzeit sind auch noch viele andere Dinge
geschehen. Die Good Luck wird während des Fluges
vervollständigt, und dieser Konstruktionsprozeß liefert
einen großen Teil der benötigten Antriebsenergie;
tatsächlich wird das Schiff 51 AE – einundfünfzig
astronomische Einheiten, die einundfünfzigfache Entfernung der
Erde von der Sonne, über den Pluto-Orbit hinaus – auf einem
Strom seiner Komponenten zurücklegen.
    Der erste Schritt besteht darin, die Replikatoren in einer
ergiebigeren Umwelt als dem Mond schürfen zu lassen. Erz wird
nämlich nicht durch seine Zusätze wertvoll, sondern durch
das Fehlen derselben – das heißt, es sollte in relativ
reiner Form vorliegen und Verunreinigungen sollten relativ leicht zu
entfernen sein. Gewöhnliches Gestein, aus dem die
Mondoberfläche besteht, enthält zu viele Zusatzelemente
(obwohl jede dieser Substanzen in isolierter Form durchaus auch ihren
Wert hätte); Cognac, Beluga-Kaviar, Filet Mignon und Jamaica
Blue Mountain-Kaffee sind sehr edle Genußmittel, aber nicht
mehr, wenn man sie zusammen in einen Mixer schüttet.
    Wo das Mondgestein ein chemisches Gemisch darstellt, bestehen
viele Asteroiden nur aus einer reinen Eisen-Nickel-Legierung, und
andere weisen einen hohen Gehalt an Kohlenstoff, Wasserstoff,
Sauerstoff und Stickstoff auf – die Grundbausteine des Lebens
(und von Kunststoff) – sowie Leichtmetalle. Deshalb stellen die
Asteroiden die natürlichen Bergwerke des Sonnensystems dar, und
die großen Magnetkatapulte, die Louie auf dem Mond stationiert
hat, haben schon Replikator-Pakete zu diversen potentiellen
Lagerstätten befördert. Ein ›Paket‹ besteht aus
Hunderten kleiner Schürfgeräte, einem Antriebssystem, mit
dem die Einheiten aneinander andocken können, einem
miniaturisierten He-3-Fusionsreaktor und einem
Zentralprozessor-Gehirn, dessen Kapazität ausreicht, eine
›Leicht-Version‹ von Louie zu simulieren.
    Diese Kopien von Louie sind natürlich nicht so intelligent
und vielseitig wie das Original an Bord der Constitution. Andererseits scheinen sie sich über seine
Kommunikationsschwäche zu mokieren, sowohl untereinander als
auch gegenüber Louie; er bezeichnet

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