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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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wünschten, Rock wäre hier, und Rock wird auch kurz auftreten – er befindet sich nämlich
an Bord eines japanischen Marinehubschraubers im Geleit der
internationalen Bergungsflotte. Der Redakteur wünscht sich einen
wirklich professionellen Reporter, der sein Handwerk versteht und
keine Angst kennt. Die alte Synthi Venture, bevor sie in Point Barrow
eine Krise bekam, wäre jetzt genau die Richtige. Der Zweite
Globale Aufstand gewinnt an Dynamik und verspricht seinen
Vorgänger noch zu übertreffen, und da sitzen sie
nun…
    Dranbleiben. Sie holen es ran. Scheiß drauf; was Surface
beziehungsweise Leslie und ihre Leibwächter sehen, ist viel zu
interessant, um es auszublenden, zumal eh alle schon Bescheid wissen.
Sie können es dann immer noch als ›unzensiertes
Material‹ deklarieren, was auch immer das im Zusammenhang mit
einem XV-Clip bedeuten mag.
    Leslie, Fred und Saul beobachten die Menge drüben im
Chinesenviertel, das durch den Chao-Phraya-Fluß vom
Orient-Hotel getrennt ist. Nun entwickelt sich anscheinend ein Kampf
auf der Phra-Pinklao-Brücke südlich von ihnen; die
Perspektive ist zwar Ungünstig, aber durch das Fernglas sieht
Leslie – Surface, verdammt! Wir bezahlen dich für den Namen
Surface!…
    Leslie erkennt einen Ausschnitt; auf der Brücke setzt ein
Schußwechsel ein, und die Leute sinken reihenweise zu Boden.
»Unglaublich«, flüstert der Redakteur.
    Über ihre Gedanken wird er Zeuge des
›Eureka!‹-Moments – der Mob im Chinesenviertel hatte
aus Thais bestanden, die indische und chinesische Läden
angriffen; mittlerweile sind die Inder, Bengalen, Pakistanis und
Chinesen anscheinend so zahlreich, um einen Gegenangriff zu starten,
und sie kämpfen sich über die Brücke in die Innenstadt
durch. »Nach achtzig Jahren Krieg dürfte wohl jeder
Krämer dort drüben ein paar automatische Waffen
haben«, bemerkt Fred. »Sie mußten sich nur noch
organisieren.«
    »Aber die Thais sind auch gut bewaffnet«, sagt Leslie.
»Die Bewohner von Chinatown kämpfen um ihr Leben, für
ihre Geschäfte und Familien, aber im Augenblick haben sie echt
schlechte Karten. Verdammte Scheiße.«
    Sie schauen wieder durch die Ferngläser, und der Redakteur
sieht mit Leslies Augen, daß die Menge vor Panzern der
thailändischen Armee zurückweicht. Er fängt einen
tiefen, etwas zu dramatischen Seufzer der Erleichterung von Surface
auf, so daß man fast glauben könnte, sie würde jetzt
kooperieren.
    Die Kämpfe verlagern sich nach Süden, und Leslie alias
Surface und die Leibwächter hasten zu den Fenstern an der
Südseite des Gebäudes. Schließlich stoßen sie
auf ein Panoramafenster mit Blick auf die Nationalgalerie.
    Die vom Chinesenviertel vorrückenden Panzer waren aus gutem
Grund in Eile. Das Nationalmuseum steht in Flammen; fünftausend
Jahre Kulturgeschichte gehen vor der schockierten Leslie in Flammen
auf. Unfähig, den Blick zu wenden, sieht sie, daß der das
Museum umgebende Pöbel uniformiert ist – sie gehören
zum Heer der Fabrikarbeiter, die normalerweise ihren
schweißtreibenden Zwölf-Stunden-Tag in den riesigen
europäischen, japanischen und amerikanischen Fabriken
absolvieren. Sie werden durch Dauerberieselung mit XV-Pornos
ruhiggestellt, Schmerzmittel verdrängen Schmerzen und
Müdigkeit während der Arbeitszeit, abgestumpft und
apathisch folgen sie dem Takt der Computer. Das Herz wird ihr schwer;
was sie verzehrt, gehört ihnen, es ist ihr Geburtsrecht, der
Ausdruck der stolzen Thai-Nation…
    Diese Leute wissen vielleicht nicht einmal, daß sie Thais
sind. Im Dämmerzustand verbringen sie ihr Leben im
›Ameisenhügel‹, dem sechzehnhundert Meter hohen
Plattenbau-Wohnheim, das innerhalb des durch die Stadtteile
Indrapithak, Toksin und den Klong Samray gebildeten Dreiecks
errichtet wurde. Sie träumen vom Reichtum, dem Glanz und dem
pulsierenden Leben, auf das sie aus den Fenstern über den Wolken
hinabschauen.
    Sie richtet das Fernglas auf einen Panzer, der seine
Maschinengewehre auf den Mob richtet und dadurch eine Gasse für
die nachfolgenden Löschfahrzeuge bahnt. Hundert Menschen sterben
vor ihren Augen, völlig umsonst – das Dach des alten
Palasts, der nun den Mitteltrakt des Museums bildet, stürzt ein.
Da ist nichts mehr zu retten.
    Der neben dem Panzer stehende Offizier kommt ihr bekannt vor, und
sie erkennt Major Srimuang, der ihr am ersten Tag die Stadt gezeigt
hatte. Als sie das Fernglas auf maximale Vergrößerung
fokussiert, sieht sie ihn weinen; ob wegen der

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