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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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noch ein paar Minuten, und sie erzählt
ihm, daß sie, ja, wirklich, nur aufgrund des Probesprechens die
Rolle der Synthi Venture bekam, aber zuvor war sie schon sechs Jahre
auf der Schauspielschule gewesen, und sie hatte oft vor Intendanten
vorgesprochen, bei vielen drittklassigen Auftritten mitgewirkt und
sich als Daten-Sachbearbeiterin betätigt, bevor sie den
Durchbruch schaffte. Es ist eine nette Geschichte, die wohl auch wahr
ist, und wer weiß, vielleicht wird er durch ihre Verbreitung
noch berühmt.
    Als er gegangen ist, stellt sie fest, daß sie dabei ist, das
ganze üppige Frühstück zu vertilgen. Es ist zwar nicht
ganz so vorzüglich wie das Riesenfrühstück um drei Uhr
morgens, als sie gerade geschlossen hatten und in einem von
Theaterleuten, Linken und Stadtstreichern frequentierten Café Onkel Wanja improvisierten, aber es ist trotzdem ziemlich gut
und nicht das überteuerte und zu scharf gewürzte irre Zeug,
das Synthi konsumiert. Sie beendet das Frühstück, ohne die
Lektüre fortzusetzen, und schrubbt sich am ganzen Körper
gründlich ab. Als sie sich abtrocknet, sind bereits zwei Stunden
ihrer Freischicht verstrichen.
    Sie mustert sich im großen Spiegel, und, verdammt, sie
muß schon wieder weinen. Ein Problem von XV besteht darin,
daß der Benutzer die Vorgänge wie durch einen dichten
emotionalen Gaze-Schleier rezipiert; das erklärt, weshalb ein
melodramatischer Charakter wie Synthi eine größere
Intensität entwickelt und warum Newsporn mit seinem
akuten physischen Schmerz und Horror ein solcher Renner ist. Im
Spiegel zeigen sich nun die Auswirkungen des Geschlechtsverkehrs mit
Quaz in der vorigen Nacht. Große blaue Flecken auf den perfekt
modellierten Brüsten und lange Kratzer von seinen
Fingernägeln – die praktisch Klauen sind – an den
Schenkeln und auf dem Bauch. Sie haben ihr ein schmerzstillendes
Mittel verabreicht, wie sie es immer tun, aber es löscht dennoch
nicht die Erinnerung daran, daß er ihr den Mund schmerzhaft
weit aufzwang und ihr die Zunge blutig biß.
    Natürlich sind die Erfahrungen der Benutzer weitaus weniger
extrem, und sie hatten keine Ahnung… wirklich nicht? Sie
inspiziert die Quetschungen und Kratzer gründlicher,
berührt die Wunden, wobei die Schmerzen die Wirkung der
Medikamente wie Echos neutralisieren, und sie sieht die feinen, vom
Laser verursachten kleinen Narben, sieht die Stellen, an denen eine
gesunde Frau mit großen Brüsten eine zusätzliche
Hautfalte haben würde, die Ellbogen sind mit etwas armiert
worden, das wie ein winziges Akkordeon funktioniert, und dort, wo
zweimal im Jahr Male und Narben von der Brust entfernt werden, ist
die Haut rosig wie die eines Neugeborenen – selbst als sie mit
dem Daumennagel darüberfährt, spürt sie nichts, und
ihre gestutzten und ästhetischen Schamlippen sind von Narben
übersät.
    Wie kann jemand von einer Frau erregt werden, die
zusammengenäht wurde wie ein Monster von Frankenstein?
    Sie dringt in die Randzonen der Erinnerung vor und stellt fest,
daß ihr geistiger Zustand nicht besser ist als der
körperliche. Von der ganzen Beißerei ist am Hals von Quaz
narbiges Gewebe zurückgeblieben, und sein Rücken, den
Synthi (und Flame und Tawnee und Giselle…) so oft aufgekratzt
haben, erweckt den Anschein, als ob sie ausgepeitscht worden
wäre. Rock, Stride und Quaz haben allesamt einen Penis, der mit
Implantaten gespickt ist, daß er malträtiert wirkt wie ein
Blumenkohlohr. Die winzigen Narben der Muskelstimulatoren und Sender
sind überall an Armen, Brust und Unterleib zu sehen.
    Sie hat eine Vision von Frankensteins Braut, von
zusammengeflickten Leichen, die sich prügeln und aneinander
zerren und dann zu einem Haufen beschädigter Körperteile
zerfallen, und sie befürchtet schon, dieses gute
Frühstück wieder zu verlieren, aber dann atmet sie tief
durch und sagt: »Ich werde Urlaub beantragen, und wenn sie mich
feuern, werde ich mich eben damit bescheiden, reicher zu sein, als
ich es mir jemals vorgestellt habe. Aber ich werde das nicht noch
einmal tun, wenn sie mir nicht vorher sagen, wann ich eine
Freischicht bekomme, und das muß bald geschehen, denn so kann
ich nicht mehr weitermachen. Nicht, solange ich mich nicht erholt
habe und mich deutlich besser fühle.«
    Nach diesen Worten bricht sie ab und verfällt in einen
solchen Weinkrampf, daß sie spürt, wie die Bauchmuskulatur
der Mary Ann Waterhouse sich derart verspannt, daß sie mit dem
Zwerchfell der Synthi Venture kollidiert.
     
    John

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