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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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Klieg ist wie immer schon früh wach, und als die
Morgendämmerung über dem alten Kennedy Space Center
einsetzt, das sich unterhalb seines Kontrollturms erstreckt, reibt er
sich die Hände und lacht in sich hinein. Ein unbedarfter
Besucher könnte auf die Idee kommen, daß all die
blinkenden Monitore, von denen er umgeben ist, Teil seines
Vergnügens sind, weil er Leiter der Operationen von GateTech ist, aber in Wirklichkeit handelt es sich nur um Attrappen. Klieg
würdigt sie keines Blickes – er bezahlt seine Leute
dafür, daß sie sie betrachten und sich einen Reim auf ihre
Darstellungen machen, und für jeden Bildschirm, den es hier zu
sehen gibt (und für viele tausend andere, die zu trübe
sind, als daß sie noch für Dekorationszwecke verwendbar
wären), gibt es mindestens zwei Mitarbeiter, die weitaus mehr
über diese Monitore wissen, als Klieg jemals in Erfahrung
bringen wird.
    Außerdem gibt es über hundert Beschäftigte, die
mehr über alle Bildschirme wissen als Klieg. Wenn er sein
eigener Mitarbeiter wäre, würde er sich wohl selbst
kündigen müssen, und dieser Gedanke entlockt ihm ein
Lächeln.
    Sie sind aus dem Grund eine schöne Dekoration, weil die
meisten Besucher von Kennedy nur deswegen gekommen sind, um einen
Blick auf die große Gedenktafel zu werfen, die verkündet,
welche Wahnsinnigen sich von hier aus in der Spitze von kaum zu
kontrollierenden Bomben in den Orbit hatten schießen lassen.
Einige entschlossenere Besucher wagen sich indessen weiter vor und
betrachten die kleinen Gedenktafeln auf dem bröckelnden Beton
oder an den teilweise kollabierten Rampen und Türmen mit den
EINSTURZGEFAHR-Schildern und den kleinen Tafeln, auf denen Namen und
Daten verzeichnet sind.
    Aber es kommt ohnehin fast niemand hierher. Je nach Wissensstand
schauen sie sich im Geschichtsunterricht ein paarmal die Videoclips
an, und was sie außer auf einem langen Feuerstrahl gen Himmel
reitenden Raketen noch sehen, sind riesige Räume mit
unzähligen Bildschirmen, Bildschirme, die irgendwie allein schon
aufgrund ihrer schieren Anzahl den Eindruck vermittelten, daß
man alles unter Kontrolle hatte und sich um jeden kümmerte. (Es
mußte ein interessantes PR-Problem gewesen sein, zu verhindern,
daß die Leute die Bildschirme irrtümlicherweise für
defektanfällig hielten und deshalb glaubten, sie
müßten ständig beobachtet werden, überlegt
Klieg.) Daher hat er in seiner Eigenschaft als der Mann, der Cape
Canaveral kaufte; diese Reihe Bildschirme als eine Art Trophäe
aufgestellt, und er läßt darüber laufen, was ihm
gefällt – und in diesem Fall sind das die Daten, die sein
Reich durchströmen.
    ›Reich‹ ist gar nicht mal die schlechteste Bezeichnung,
sinniert Klieg – aber warum überkommen ihn heute nur solche
philosophischen Anwandlungen? Nicht, daß er die Philosophie
etwa geringschätzte. Ein Aspekt, durch den er sich
gegenüber der Konkurrenz bisher auszeichnete, war seine mentale
Geradlinigkeit, aufgrund derer er sich darauf konzentrierte, was er
gerade tat, und nicht auf irgendwelche Hirngespinste. In seinem
Innersten weiß er genau, daß er weder ein
Industriekapitän ist (im Grunde hat keine seiner Handlungen
Ähnlichkeit mit den Aktivitäten eines Schiffskapitäns,
einer Infanteriekompanie oder einer Basketball-Mannschaft) noch ein
›Macher‹ (durch Arbeit an sich verdient man kein Geld; nur
durch Bezahlung verdient man Geld) und auch kein Visionär (man
muß seinen Weg kennen, aber falls es überhaupt ein
lohnendes Ziel gibt, werden die meiste Zeit und Anstrengung in den
Weg investiert). Nein, philosophische Klarheit ist seit jeher der
Schlüssel seiner Geschäftstätigkeit gewesen, und er
ist auch nicht empfänglich für oberflächliche oder
selbstgefällige Betrachtungen – in der Regel nicht einmal
für die schmeichelhafte Erkenntnis, daß er immun
gegenüber besagter Selbstzufriedenheit ist.
    Also lehnt er sich in seinem großen Kontrollsessel
zurück – bei Besuchern weckt er die Assoziation eines
›Missions-Commanders‹, aber er ist auch gut für Kliegs
schlimmes Kreuz – und gestattet sich einen philosophischen
Diskurs. Vielleicht kann er dabei noch etwas lernen.
    Alexander weinte bei dem Gedanken, daß es keine Welt zum Erobern mehr gab, und dabei waren Alexanders Eroberungen nicht
annähernd so groß, wie er gedacht hatte.
    Dieser Gedanke schleicht sich unwillkürlich ein. Klieg sieht
an seinem schlanken Körper hinab; er bekommt schon die ersten
grauen Haare und mag sich

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