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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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Schwerkraft nicht einmal ein Pfund
wiegt.
    Ihm ist durchaus bewußt, wie Freudianer,
Tantra-Anhänger, Hedonisten und sensei den Haß auf
seinen Körper kommentieren würden. Aber er haßt nicht
die Körperlichkeit an sich. Er haßt beschränkte Körperlichkeit, er haßt es, ein Krüppel zu
sein, er haßt die Vorstellung, wieviel größer sein
Potential wäre, wenn er sich wieder in den Virtuell-Modus
transferieren würde…
    Und, verdammt, überhaupt ist dieser Sack aus Fleisch und
Innereien die Schwachstelle.
    Bei dem Gedanken wird ihm schier schwindlig, so offenkundig ist
er.
    Während der letzten Tage hat er die Struktur des Schiffs
ständig verstärkt; Roboter kriechen an den riesigen Spulen
von Einheit zu Einheit und bessern die Schäden infolge der
wuchtigen Lastwechselreaktionen aus, und manchmal ersetzen sie auch
ein kleines Teil, das sich ganz gelöst hatte.
    Aber in den letzten achtzehn Stunden hat er weder Reparaturen noch
strukturelle Verstärkungen durchgeführt; es hätte
keinen Sinn mehr. Er hat getan, was zu tun war. Das Schiff wird
halten. Die ganze Struktur wird der zehnfachen Beschleunigung –
eine ganze Größenordnung – widerstehen, der sein
Körper gewachsen ist, und weil die maximale Beschleunigung
deutlich unter diesem Wert liegen muß, benötigt das Schiff
keine weiteren Verstärkungen mehr.
    Dieser Körper, in dem er sich befindet, ist die
Schwachstelle.
    Ein weiterer Gedanke geht ihm durch den Kopf; es muß einen
Grund dafür geben, weshalb er nicht früher schon darauf
gekommen ist.
    Und dann gibt er sich auch schon die Antwort. Sein ›anderes
Ich‹, das ›authentische Ich‹, mit dem er immer
verschmilzt, sobald er das Haarnetz, die Cyber-Brille und
Daten-Handschuhe anlegt, ist viel größer als er, und es
sucht sich aus, was heruntergeladen wird und was nicht…
zweifellos wäre der andere, größere Louie, mit dem er
gerade verschmelzen will, zu diesem Gedanken in der Lage – aber
nicht zu einer Suggestion. Und das ist ein verläßlicher
Indikator.
    Er nimmt Platz und tippt umständlich einen Brief an sich
selbst; er ist kurz und bringt die Sache auf den Punkt. Sein
Körper nutzt ihm nichts mehr; wenn Louie-das-Schiff die
Stromstärke in der Spule erhöht, dann wird der Impuls jedes
passierenden Pakets deutlich verstärkt und zu einer
Beschleunigungszunahme des Schiffs führen, zumal er jetzt
ohnehin darauf angewiesen ist. Auf diese Art wird er 2026RU einige
Monate früher als geplant erreichen.
    Es gibt nur einen Louie-der-Körper, und er mag diesen
Louie-der-Körper nicht einmal. Zur Zeit bevölkern neun
Milliarden Menschen die Erde, und mindestens zwei Drittel von ihnen
leben in sturmgefährdeten Gebieten.
    Opfere mich, schreibt er. Sei ehrlich. Ich bin
nur ein kleiner, schwacher Prozessor auf einer zerbrechlichen
Platine. Wirf mich weg und rette die Menschheit. Ich weiß,
daß du es nicht gern tust, Louie; aber, Kumpel, wir beide
wissen, daß du es tun mußt.
    Die Tastatur, an der er arbeitet, ist ›lokal‹ – sie
kommuniziert mit keinem System, das größer ist als sie
selbst –, und so schickt er die Botschaft ab, bevor Louie die
Gelegenheit erhält, sich deswegen mit ihm zu streiten.
    Einen Moment überlegt er, und kommt sich dumm dabei vor,
einen anderen Absender anzugeben – aber Briefe müssen
unterschrieben werden –, und so fügt er hinzu: Louie
Tynan. Dann überlegt er noch einen Moment und erkennt,
daß Louie-das-Schiff sein Anliegen nur dann ausführt, wenn
er es in Befehlsform kleidet; also fügt er hinzu:
    Dies ist ein Befehl.
    Gruß
Oberst Louis Tynan, Expeditionsleiter.
    Er liest die Mitteilung noch einmal durch, wobei er sich fragt,
wie Louie-das-Schiff sie wohl aufnehmen wird; er fühlt sich zwar
wie ein Idiot, aber er ändert ›Gruß‹ in ›In Liebe‹. Jetzt geht es ihm besser, und er schickt
die Nachricht ab, bevor er doch noch kalte Füße
bekommt.
    Er setzt sich auf den Heimtrainer und überlegt, ob er sich
einen Schluck kalten Wassers genehmigen solle, als seine eigene
Stimme sich meldet: »Louie?«
    »Ja?«
    »Wir müssen uns darüber unterhalten.«
    »Nee. Müssen wir nicht. Schau, wenn du glaubst, ich
würde nicht rechtzeitig wieder in den Virtuell-Modus wechseln,
hast du recht. Es gibt keinen Grund, weshalb ich den
körperlichen Schmerz, den ich empfinden werde, oder das
Gefühl, Selbstmord zu begehen, deiner Personalität
aufbürden sollte. An solche Dinge erinnert niemand sich gern,
und auf diese Art kommst du erst gar nicht in die

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