Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
Vom Netzwerk:
Vorurteile
zu eigen gemacht.
    Im Moment jedoch wird überwiegend das Übliche gezeigt
– Schiffe werden an die Strände geworfen, Gebäude, die
man von Postkarten und Kalendern kennt, schwanken und stürzen
ein, und so weiter. Ein halbes Dutzend Hurrikane und Orkane haben das
Mittelmeer dermaßen anschwellen lassen, daß der
Meeresspiegel alle Rekorde bricht, und durch den Eintrag organischer
Schlämme, die Verdünnung des Salzwassers und die Dunkelheit
gehen die meisten Lebewesen zugrunde. Der Gestank soll unglaublich
sein, weshalb Klieg darauf verzichtet, den Vorgang per XV zu
verfolgen. Der eigentliche Grund besteht natürlich darin,
daß Klieg trotz der Dramatik der Ereignisse und der Vernichtung
historischer Kulturgüter ein in die Zukunft schauender Mann ist
– und Menschen, die vor Überschwemmungen fliehen, sind
überall gleich. Scharen weinender Kinder, hustende alte
Menschen, die es vielleicht nicht schaffen, Leute mit verweinten
Augen, die ihren ganzen Besitz verloren haben – wenn man es zum
erstenmal sieht, ist man betroffen. Beim hundertsten Mal zuckt man
desinteressiert die Achseln.
     
    Im Fernsehen und mit den zwei XV-Garnituren des Pubs hat jeder
gesehen, was sich auf Hawaii ereignet hat. Die Stimmung ist
gedrückt, denn das Dorf wird das gleiche Schicksal ereilen, und
es heißt, daß die Flutwelle vielleicht sogar über
ganz Irland hinwegrasen wird. Also versammeln die Leute sich bei
Pater Joseph in der Kirche; nicht etwa, weil sie sich dort in
Sicherheit wähnten oder glaubten, es würde schon nicht so
schlimm kommen, und nicht einmal, weil die Kirche ein etwas solideres
Dach hätte (was durchaus zutrifft), sondern weil sie der
passende Ort ist, auf den Tod zu warten.
    Die letzten Nachzügler kommen aus der pechschwarzen Nacht,
eine Nacht, die so finster ist, daß man zwar die Lichter der
Taschenlampen sieht, ihre Träger aber nicht. Die Straßen
sollen sich in Morast verwandelt haben, aber jetzt wollte sie ohnehin
niemand mehr befahren. Wenn man schon ertrinken muß, warum
nicht in Clare County; und wenn es einem bestimmt ist, zu
überleben, dann kann man den Sturm auch im Trockenen in einer
auf einem Hügel gelegenen Kirche abreiten.
    Irgendwo, weit im Westen, steht ›Clem 238‹ und schiebt
die großen Flutwellen vor sich her, welche die Radarstationen
schon vor Stunden ausgemacht haben.
    In der Kirche gibt es reichlich Kerzen, so daß Pater Joseph
einige anzündet und die Leute auffordert, ein Lied zu singen;
das übertönt den Lärm, als ein paar Männer die
blinden Fensterscheiben von innen vernageln (von außen hatte
Pater Joseph das vor einigen Stunden selbst schon getan).
    Als Priester dieser Menschen wünscht er sich jetzt Mut und
Standhaftigkeit. Seine Tätigkeit besteht überwiegend aus
Taufen, Eheschließungen und Begräbnissen, und gelegentlich
versucht er auch, einen Sünder auf den rechten Weg
zurückzuführen. Aber das hier fällt nicht in Pater
Josephs Ressort.
    Einen betrifft es schon, Gott höchstselbst, denn der gesunde
Menschenverstand legt nahe, zu Ihm zu beten. Er spricht einige
Gebete. Manche Leute dösen, doch der Priester bringt es nicht
übers Herz, sie zu wecken.
    Der Uhrzeit zufolge müßte jetzt die
Morgendämmerung einsetzen, doch sie bleibt aus; nicht einmal ein
Lichtstrahl dringt durch die Ritzen des Portals. In der Kirche riecht
es nach Körperausdünstungen und nasser Kleidung.
    Michael Dwyer bietet sich an, den großen Suchscheinwerfer
seines Lkw einzuschalten – er muß wohl zuviel
amerikanische Musik gehört haben, denn er nennt das Fahrzeug
jetzt immer ›rig‹ –, damit sie wenigstens die
Vorgänge im Tal mitbekommen.
    Die Kirche ist bereits vom Wasser eingeschlossen, und der Pegel
steigt weiter. Michael und Joseph erörtern kurz die Lage.
»Ich halte es für besser, ihnen nichts zu sagen.«
    »Hatte ich auch gar nicht vor, Pater. Noch besteht kein Grund
zur Panik.«
    Sie gehen wieder hinein, durchnäßt bis auf die Haut und
vor Kälte bibbernd, und verkünden, daß es zu dunkel
ist, um etwas zu sehen.
    Stunden später, als ihre Sachen soweit getrocknet sind,
daß sie sie wieder anziehen können, ist jedes Wort
überflüssig. Der Pegel ist gestiegen, und das Wasser
fließt in Gegenrichtung zu den Flüssen, die früher
durch das Tal strömten. Aus einer Laune heraus steigt Michael
ein Stück den Hügel hinab und taucht die Hand ins Wasser.
»Schmeckt salzig, Vater«, meldet er bei der Rückkehr.
»Der Ozean kommt.«
    Daß wieder ein halber Tag

Weitere Kostenlose Bücher