Die Mutter aller Stürme
Mary
Anns Bewußtsein eingedrungen, immer nur in das von Synthi
Venture. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, denn im Moment
wartet sie noch darauf, bis alle fertig sind, und so sieht er den
Raum aus ihrer Perspektive. Jesse registriert plötzlich ein
halbes Dutzend Dinge – der Metallstuhl, der sich in die zu
kleinen und zu hoch angesetzten Pobacken drückt, das
lästige Gewicht der großen Brüste und die unangenehm
warmen und verschwitzten Stellen darunter, und die üppige
Haarpracht vermittelt das Gefühl, von einem Handtuch umwickelt
zu sein.
Während sie spricht, spürt er die Schwingungen ihrer
Stimmbänder und kennt die Worte schon, bevor Mary Ann sie
artikuliert. »In Ordnung, jeder, der mit meinen Ohren hört
und mit meinen Augen sieht, die Hand heben.«
Alle Hände gehen hoch, etwas zittrig, denn die Bewegung wird
durch die Wechselwirkung mit der Motorik der Originalkörper
erschwert. Jesse sieht, wie sein Arm spastisch auf und ab zuckt; weil
der Vorgang aber von Mary Anns Motorik überlagert wird,
spürt er es kaum. Die Herreras wirken jedoch sehr
erschrocken.
»Gut, jetzt lehnen Sie sich zurück, während ich
mich umschaue und Ihnen einige Dinge in Erinnerung rufe«, sagt
Mary Ann. Sie erhebt sich, verläßt das Konferenzzelt von
Passionet, geht am Staticopter vorbei, mit dem die Leute
eingeflogen worden sind und steigt auf eine kleine Anhöhe, von
der aus sie die ganze Kolonne überblickt. Sie besteht aus
Zehntausenden von Menschen, wobei die Alten und Kranken in Bussen und
auf Lkw transportiert werden, einige Radfahrer sind dazwischen (der
Einsatz von Privatfahrzeugen war nicht möglich, denn die
Tankwagen hätten die Kolonne auf den zerstörten
Straßen der Landenge nicht versorgen können), aber der bei
weitem größte Teil marschiert. Einige Trauben von Menschen
singen, als ob sie zu einem Picknick unterwegs wären, und manche
stolpern die Straße entlang, als wären sie gerade einem
Artillerieangriff entronnen; die meisten Leute gehen achtlos an ihnen
vorbei.
Viele der armen Leute sind noch nie so weit von daheim
fortgewesen. So gut wie von den Feldküchen sind sie noch nie
versorgt worden; natürlich sorgen sie sich wegen der
Hütten, die sie zurückgelassen haben, aber sie betrachten
es auch als eine Art Abenteuerurlaub.
Mit Mary Anns Augen sehen sie Tapachula – vor dem Wirbelsturm
– und ihre nordwärts wandernden Einwohner; sie erinnern
sich an die warmen und dunklen Nächte, die schlichte Stadt mit
ihren einfachen Menschen, die ›nur‹ arbeiteten und Familien
gründeten, den Geruch der staubigen Straßen und die
sengende Sonne am Himmel…
Sie denkt an Dutzende Bekannte, die sie dort hatte,
Geschäftsleute und Arbeiter, Gemüsehändler und
Straßenkünstler, Kinder und Bettler, die sie jeden Tag
gesehen hatte. Sie ruft alle möglichen Erinnerungen auf: den
besonders schönen Garten vor einem Haus (den Gärtner hat
sie nie gesehen, vermutet jedoch, daß er auch in der Kolonne
marschiert), das Cafe Sante, das ein paar pseudofranzösische
Gerichte auf der Speisekarte hatte und eine große Auswahl guter
Hausmannskost aus Chiapas, den Geruch Dutzender Holzkohlegrills, wenn
es Zeit zur comida war, das Lächeln des fahrenden
Händlers, der exquisite LammTacos mit Knoblauch
feilbot…
Und dann kommt der Hurrikan über ihr Publikum, so abrupt und
realistisch, daß sie selbst ins Taumeln gerät; sie zeigt
ihnen die Zerstörung der Stadt, den Schrecken und die Hoffnung,
die beiden Kinder, die ihre Mutter wiederfanden, das an den Fenstern
hinabströmende Wasser, die tagelangen Bergungsaktionen –
alles inmitten dieser Menschen, die sie so detailliert beschrieben
hatte.
Das Ende der Stadt und der Marsch in eine neue Zukunft; die langen
Tage auf der Straße, die verbindenden Anstrengungen, die
Eifersüchteleien und Habgier, doch auch das gemeinsame Abenteuer
– sie läßt nichts aus. Und als sie nun die auf der
alten zweispurigen Straße unterhalb der dunkelgrünen
Vulkanhänge dahinziehende Kolonne aus Lkw, Bussen und Menschen
sehen, spüren sie die tiefere Bedeutung dieses Vorgangs und
wissen, daß jeder dieser Menschen einzigartig ist…
Dann beendet sie die Präsentation. Einen Moment später
legen alle die Brillen, Haarnetze und Handschuhe ab, seufzen und
reiben sich die Augen, als Mary Ann wieder das Zelt betritt. Sie
schaut in die Runde und fragt »Gut?«, ohne dabei zu
lächeln oder eine positive Reaktion zu erwarten.
Der Programmdirektor und die Drehbuchautoren erholen
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