Die Mutter aller Stürme
jugendlich-pubertäre Seite
Synthi Venture am liebsten zum Teufel schicken würde und meine
mittleren Alters es doch irgendwie genießt.«
»Klingt so, als ob es einen Versuch wert sei«, sagt
Jesse, und sie setzen es in die Praxis um. Mary Ann holt tief Luft,
ihr Blick wird starr, und er erkennt, daß sie jetzt Synthi
Venture ist. Er nimmt sie in die Arme, und die nächste halbe
Stunde ist angefüllt mit wilder Ekstase und Lustschreien.
Danach sagt Jesse ihr, daß Mary Ann besser sei, aber Synthi
sei wilder, und das dürfte den Sachverhalt wohl treffen.
Am nächsten Morgen wähnt Jesse sich in einem
surrealistischen Traum. Bei Passionet findet eine
Redaktionskonferenz statt, und er hätte nie gedacht, an einer
solchen Runde teilzunehmen, ganz zu schweigen in Anwesenheit von zwei
renommierten Professoren der Semiotik, einem prominenten Veranstalter
von Rock-Konzerten und zwei schweigsamen Herren in Anzügen (der
eine aus dem Weißen Haus und der andere von den UN),
einschließlich ›Synthis Repräsentativer
Freunde‹, wie einer der Berater sie nennt und dabei von ihnen
spricht, als wären sie überhaupt nicht da. Bei den
›SRF‹ handelt es sich indessen nur um Jesse und die
Herreras, wobei er und Tomás sich während der letzten
Kaffeepause schon darüber gestritten haben, ob der Aufdruck auf
den T-Shirts nun ›SRF: Synthis Freunde – JETZT‹ oder
›SRF World Tour 2028‹ lauten solle.
Zwei Autoren halten die Idee für »witzig – wir
befassen uns später damit. Nehmt den ersten Spruch, Leute; wir
haben euch als Urheber registriert, und wenn wir ihn benutzen,
gibt’s ein Honorar.«
»Wieviel das wohl sein wird?« flüstert Tomás
Jesse zu. »Und brauchen sie wirklich so dringend
Ideen?«
»Nun, für ein Bier wird es wohl reichen«, erwidert
Jesse etwas unsicher, denn er als norteamericano müßte eigentlich der Experte für solche Dinge
sein und hat dabei nicht mehr Ahnung als Tomás. »Und was
die Ideensuche betrifft – hast du schon mal XV gesehen?«
Tomás schaut ihn nur an, nickt, als ob er soeben eine sehr
schlaue Bemerkung gehört hätte und klopft ihm auf den
Rücken.
Die Konferenz zieht sich lange hin, und Jesse hat den Eindruck,
daß seine alten Dozenten aus der Pflichtvorlesung
›Interdisziplinäre Kommunikation‹ wirklich
wußten, wovon sie redeten, wenn sie ständig behaupteten,
daß zwischen Vertretern verschiedener Fachgebiete praktisch
keine Kommunikation möglich sei. Die Regierungsvertreter sind
anscheinend der Ansicht, es würde genügen, Mary Ann und den
Drehbuchautoren eine Liste vorzulegen, die sie dann in die Köpfe
der erwartungsvollen XV-Nutzer einprogrammieren, vergleichbar mit den
Anti-Drogen-Botschaften in den alten Situationskomödien. Die
Semiotik-Professoren vertreten indessen die Position, daß die
Zuschauer, unabhängig von der Thematik der Beiträge, die
Inhalte doch wieder in ihre alten subjektiven Raster pressen
würden. Die Autoren selbst sind anscheinend von der Vorstellung
besessen, mit Projekten aufzuwarten, die ›Gewalt ersetzen und
einen echten Handlungsrahmen schaffen‹. Den
Entscheidungsträgern von Passionet scheint indes jede
Lösung willkommen zu sein, bei der niemand aufsteht und den Raum
verläßt.
Nachdem in einem langwierigen Prozedere alle Positionen noch
einmal durchgekaut worden sind, sagt Mary Ann: »Wenn Sie
gestatten, möchte ich Sie noch auf etwas hinweisen.«
Die Runde nickt ihr zu, und sie fährt fort: »Meiner
Ansicht nach besteht das Problem darin, daß Sie das Material
für uninteressant halten. Ich meine, nach dem, was wir in den
letzten Wochen erlebt haben und auch heute noch erleben, ist XV viel attraktiver geworden als früher.«
»Sprechen Sie weiter«, sagt nach einer langen Pause
einer der Manager.
Mary Ann lächelt ihn an. »Ich könnte noch mehr tun.
Wenn Sie bitte ein Haarnetz überziehen wollen, dann werde ich
Ihnen genau zeigen, wie ich die ganze Sache beurteile. Ich meine, das ist doch unser Arbeitsmedium, nicht wahr?«
Erneut tritt eine längere Pause ein, und dann nicken alle
Konferenzteilnehmer. Weil, wie Jesse vermutet, solche Vorkommnisse in
diesen Konferenzen an der Tagesordnung sind, steht auch gleich eine
Kiste mit Haarnetzen, Cyber-Brillen und Datenhandschuhen bereit;
nachdem er sich davon überzeugt hat, daß die Herreras mit
ihren Haarnetzen zurechtkommen, zieht er sich seins über.
Seit er Mary Ann kennengelernt hatte, ist er nicht mehr in ihrem
Bewußtsein gewesen – im Grunde ist er noch nie in
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