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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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als Festland ist, die jahreszeitlich
bedingten Temperaturschwankungen größer sind und der
südliche Pazifik kälter ist.
    Aber obwohl Sibirien Priorität genießt und praktisch
von einem amerikanischen Prokonsul regiert wird, ist Hardshaw die
meiste Zeit unterwegs, um Flüchtlingslager zu besuchen. An der
Westseite der Rocky Mountains ist so viel Wasser hinabgeflossen,
daß die Küstenwache Radaraufnahmen auswertet, nur um sich
ein Bild davon zu machen, welche Konturen die Westküste jetzt
hat. In Flußbetten, die seit der Ankunft der weißen
Siedler kein Wasser mehr geführt hatten, betrug die Wassertiefe
auf einmal 18 m, und in den Sierras fiel so viel Schnee,
daß sich an vielen Stellen neue Gletscher gebildet haben.
    Die ungefähr siebzig Prozent der
Westküsten-Bevölkerung, die ostwärts geflohen sind,
leben nun über die Rocky Mountains und die Wüstenstaaten
verstreut; an der Westküste haben die Wassermassen mehr
Überflutungen und Todesfälle verursacht als anderswo, und
laut NOAA steht es fest, daß der Zufluß, der von den
Bergen noch zu erwarten ist, viele Seen wieder auffüllen wird,
die seit dem Ende der Eiszeit ausgetrocknet waren. Vielleicht
ließe sich damit sogar eine Werbekampagne aufziehen… es
wird daran gearbeitet, erzählt Hardshaw allen, die sie danach
fragen.
    Von Carla heimlich beobachtet, erliegt Berlina Jameson eines
Nachts der Versuchung und legt ihren Arm um Naomi Cascade; als Naomi
sich an sie anlehnt, schluckt Berlina, hebt das Kinn der
jüngeren Frau an und küßt sie fest auf den Mund. Es
dauert einen langen Augenblick, bis Naomi den Kuß erwidert.
    Zehn Tage lang gibt es keine neuen Beiträge von Sniffings, während Berlina die Jahre der emotionalen Deprivation
kompensiert. Naomi sagt sich zwar noch immer, sie sei heterosexuell,
aber sie liebt Berlina wirklich. Das ist eine so normale
Verhaltensweise für eine junge Frau, daß Carla, wenn sie
die alten Berichte ansieht, in denen Naomi bei Versammlungen und
Demonstrationen Reden hält, den Eindruck hat, Naomi sei nicht
mehr dieselbe Person wie früher.
    Nach einer langen Pause geht Di Callare nach Hause, um die
Umzugsvorbereitungen in das Zwei-Zimmer-Appartement in Denver zu
treffen, in das die Bundesbehörden sie umquartieren werden. Nach
›Clems‹ nächstem Durchzug wird die ganze Regierung
dorthin umziehen. Es wäre besser, die Büros und Abteilungen
gleich zu verlegen, aber es findet ein wüstes politisches
Gerangel über Präzedenzfälle statt, und aus reinen
PR-Gründen können die obersten Ebenen der Hierarchie nicht
umziehen, bevor die anderen evakuiert sind. Für alle Fälle
stimmt Diem sich mit der Regierung von West Virginia ab; nach Di
Callares Meinung ist Charleston die dem District of Columbia am
nächsten gelegene Stadt, die den Sturm wahrscheinlich
unbeschadet überstehen wird, und schließlich ist sie nur
vier Autostunden, vierzig Zipline- und zwanzig Staticopter- Minutenvon Washington entfernt – im
Krisenfall könnte man schnell dorthin gelangen.
    Am 25. August wird Eniwetok erneut von ›Clem‹ gestreift,
und die Satelliten zeigen einen verdächtig schwankenden
Fallstrom, was bisher immer Vorbote eines neuen Hurrikans war.
    Am 23. August kreuzt Louie Tynan den Orbit des Saturn, 9,5 AE von
der Sonne entfernt; er hatte neunzehn Tage allein für die erste
astronomische Einheit seiner Reise benötigt, aber da der
industrielle Komplex, der ihn vorantreibt, exponentiell gewachsen
ist, hat auch sein Beschleunigungskoeffizient zugenommen… die
vierte Ableitung der Position bei linear fortschreitender Zeit,
weiß Louie. Die Art von Gleichung, die auch bei Kernspaltung,
Bakterienkolonien, beim Rüstungswettlauf und bei galoppierender
Inflation relevant ist.
    In diesem Moment arbeitet sein Verstand mit 20.504 Gehirn-Jahren
pro Tag, zweieinhalb Mal so schnell wie beim Verlassen des Mondes;
ein normaler Mensch müßte 300.000 Jahre leben, um die
Erfahrungen zu sammeln, die Louie in den vergangenen 34 Tagen gemacht
hat.
    Je weiter er ins All vorstößt und je schneller sein
Geist arbeitet, desto mehr Zeit verwendet er auf Tagträume und
die Beschäftigung mit dem
›Kunst-Natur-Was?-Paradigma‹. Hierbei handelt es sich um
den Zusammenhang zwischen drei Milliarden Jahren Evolution,
Michelangelos David und der Frage, warum dieser David von den Menschen so geschätzt wird. Das ist so ziemlich das
interessanteste Problem, mit dem er sich je befaßt hat. Louie
hatte indes nie ein Faible für Kunst gehabt – in

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