Die Mutter aller Stürme
Angst sich auf die
Verfassung der Menschen auswirken. Von den neun Milliarden Menschen
auf der Erde leiden zur Zeit ungefähr anderthalb Milliarden an
Unterernährung, zweieinviertel Milliarden sind obdachlos und
zirka drei Milliarden werden sich noch in diesem Jahr eine heilbare
Krankheit zuziehen, ohne indes auf ärztliche Hilfe hoffen zu
können. Und aus diesen Teilmengen ergibt sich dann noch eine
Schnittmenge von Menschen, auf die alle der genannten Punkte
zutreffen…
Die Angst ist indes etwas schwieriger zu quantifizieren.
Das schiere Ausmaß unnötigen menschlichen
Unglücks übersteigt sogar Louies Fassungsvermögen.
Irgendwie ist er auch froh, daß er es nicht weiß.
Dieser Begriff ›unnötig‹ geht ihm nicht aus dem
Sinn. In tausend Jahren sind die körperlichen Gebrechen der
Menschheit vielleicht nur noch Geschichte, zumal sich außer
Louie ohnehin niemand mehr daran erinnern wird. Und dann sind da noch
diese anderen Träume -Löwen, die auf dem Grasland von
Aphrodite Wildpferde und Känguruhs jagen. Delphine im Meer der
Stille, die auf den Grund dieses Meeres tauchen, wo die Menschen zum
erstenmal auf dem Mond gelandet sind. Ein Grizzly, der aus dem
Pinienwald am Hang von Valle Marineris bricht und bergab zu seiner
Tränke am großen See läuft. Der mächtige Jupiter
steht blutrot am Himmel über den endlosen Ozeanen und driftenden
Inseln von Ganymed und Europa.
All das und ihre Gesundheit obendrein, sagt Louie sich und lacht
lautlos. Nun, wenn er sich entschließen sollte, diesen Traum zu
verwirklichen… es würde zwar über das in seinem
Arbeitsvertrag festgelegte Tätigkeitsprofil hinausgehen, aber er
glaubt nicht, daß die Nachfahren seiner Arbeitgeber sich
deswegen beschweren würden.
Aber vielleicht finden ihre Nachfahren doch einen Grund zur
Beschwerde, denn die Menschen sind anscheinend so disponiert,
daß sie einen Hang zum Masochismus haben. Aber dies zu
ändern, steht nun wirklich nicht in Louies Ermessen.
Schließlich ist er kein Gott.
Eigentlich nicht.
Noch nicht.
Im stillen bezeichnet Mary Ann die Phase nach dem Wirbelsturm als
›Pseudo-Hurrikan‹. ›Clem‹ ist aber immer noch
aktiv und real, und als ›Clem 500‹ über die Landenge
von Tehuantepec rast und sie sich ein paar Tage furchtsam in den
Gräben zusammenkauern, wird ihnen diese Realität deutlich
bewußt. Aber es ist nicht mehr so schrecklich wie zuvor; die
Unterstände sind geräumig genug, um allen Unterschlupf zu
bieten, und solide genug, um Sicherheit zu gewährleisten. Die
Menschen verbringen die Zeit mit Gesängen, Wort-Spielen,
Schlafen und Geschichtenerzählen – es ist quasi eine
längere Erholung von dem endlosen Marsch in der Hitze. Als der
Sturm vorbei ist, kommen die Leute erholt und guter Dinge heraus; die
Unterstände werden im Originalzustand zurückgelassen, so
daß sie im Notfall auch anderen Wanderern zur Verfügung
stehen.
Deprimiert stellt Mary Ann fest, daß dies ein Indiz
dafür ist, daß mit weiteren Stürmen gerechnet werden
muß.
Nachdem der Sturm sich gelegt hat, gehen sie wieder auf die
Wanderschaft und säubern dabei die Straße.
Währenddessen macht ›Clem‹ nun zum viertenmal die
Runde über den Pazifik und fegt erneut über Inseln hinweg,
die er zuvor schon verwüstet hatte. Es gibt nicht viele
Todesopfer; die Flutwellen branden heran, aber wo sie zuschlagen,
waren schon andere Flutwellen vor ihnen gewesen, und
schließlich kann man niemanden zweimal töten.
Für Brittany Lynn Hardshaw ist diese Zeit aus anderen
Gründen schmerzlich. Die Gebiete, die Harris Diem
›Cupiarchie‹ nennt – Staatswesen, die von Leuten
getragen werden, die sich nach Belieben alles aneignen – sind
deshalb so schwer zu erobern, weil man keine guten, schlechten oder
gleichgültigen Menschen findet, die wirklich an der Führung
der Regierungsgeschäfte interessiert wären. In der
Zwischenzeit finden sich viele junge Intellektuelle und Besserwisser,
die nun, da sie in Sicherheit sind vor den gedungenen Schlägern
der verschiedenen ›Cash-Lords‹ – eine andere
Wortschöpfung von Diem, die von den Medien langsam aufgegriffen
wird – ihre ganze Freizeit darauf verwenden, der
Besatzungsregierung das Leben zur Hölle zu machen.
Wenigstens glaubt Klieg, daß er innerhalb von zwei Monaten
eine Rakete starten kann, damit die südliche Hemisphäre
verschont bleibt; alle Schätzungen besagen, daß, wenn
nichts geschieht, der Sturm in diesem Gebiet viel schlimmer toben
wird, da dort viel mehr Wasser
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