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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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begreifen.
Versuche, es zu fühlen, Jesse, du mußt es
fühlen.« Sie streicht sich das Haar aus dem Gesicht, und er
sieht, daß ihre Augen feucht sind, was ihn beunruhigt –
irgendwie hat er nicht erkannt, daß die ganze Angelegenheit
auch für sie schmerzlich ist, und er ist peinlich berührt
davon, so daß er den Streit unterbricht und ihr für einen
Moment zuhört.
    Als sie das Haar weiter zurückschiebt, sieht er die
Blässe ihrer sommersprossigen Haut. Die großen Augen
schwimmen in Tränen, und ihre Stimme klingt belegt.
    »Du hast wohl gedacht, zwischen uns würde es
hervorragend laufen, stimmt’s? Ich meine, nachdem wir
draußen in der Wüste waren?«
    Ihm ist nicht klar, worauf sie hinaus will.
    »Ich hätte es dir wohl erklären sollen, aber ich
hatte den Eindruck, daß es sinnlos gewesen wäre, Jesse.
Ich… nun, auf der Versammlung, wo alle die Zerstörung der
sibirischen Raketen mitverfolgt hatten, fühlte ich mich so
müde. Ich wollte so etwas nie mehr sehen. Und… nun,
weißt du, ich habe mich mit dir eingelassen, weil ich es zum
Teil als… äh… eine gewisse Pflicht empfunden hatte.
Ich meine, du warst intelligent und hast mich gemocht, und ich
glaubte, dir bei der Ermittlung deiner Werte behilflich sein zu
können.«
    Jesse hatte nicht erwartet, daß sie sich seiner aus
Pflichtgefühl annahm.
    »Als ich dich dann aber näher kennenlernte… nun,
weißt du, ich hatte das Glück, in einem Elternhaus
aufzuwachsen, in dem man mir von Anfang an antizentrische Lebens- und
Erd-Werte vermittelte, so daß ich weder linear noch zentrisch
erzogen wurde. Ich meine, in den meisten Gruppen, denen ich
angehört habe, ist das meine große Stärke gewesen;
mein substantieller Beitrag für die Gruppe besteht darin,
daß ich nicht gegen die alten humanistischen Werte
ankämpfen muß. Also hat es sich immer so verhalten,
daß ich meine Werte mit anderen geteilt habe und nicht
umgekehrt, denn in der Regel vertrat ich die Werte, die sie, wie sie
sehr wohl wußten, auch vertreten sollten, und ich habe sie gern
mit ihnen geteilt.« Sie seufzt und betrachtet ihre Hände,
die wie Spinnen auf ihrem Schoß zittern. »Jesse, schau,
ich hatte nicht nur nicht erkannt, daß du kein echtes
Verständnis für ökologische Werte hast, du
wußtest nicht ja einmal, daß du es haben solltest. Ohne andeuten zu wollen – ich meine, ich bin sicher, du würdest es nie mit Absicht tun, du bist ein guter Mensch, Jesse – mein Gott, ich führe mich ja wie ein Richter auf…« Sie weint jetzt heftig.
    In Jesse tobt ein Widerstreit der Gefühle. Er möchte sie
in den Arm nehmen und beruhigen wie ein kleines Mädchen, aber er
kann die Tatsache nicht übersehen, daß, wenn ihre Augen
verquollen und rot sind und die Nase läuft – insbesondere,
nachdem sie ihm gestanden hat, daß sie sich nur aus
Pflichtgefühl mit ihm abgegeben hat, um ihn armen dummen Arsch
von seinen schlechten Werten zu erlösen, die er nie als schlecht
angesehen hatte – sie ist einfach nicht mehr so attraktiv wie
früher. Er registriert indessen auch, daß beim Weinen ihre
großen Brüste auf- und abwippen, und im Hinterkopf fragt
er sich, wie es wohl wäre, sie festzubinden, solange sie noch
weint, und sie zu drücken – und die Tatsache, daß er
diesen Gedanken hat (und er macht ihn an), verursacht ihm ein flaues
Gefühl in der Magengegend. Er muß sich nun mit der Frage
befassen, wann und wie sie ihm den Laufpaß gibt.
    Sie wischt sich die Nase am Ärmel der Bluse ab, schaut auf
die Uhr und fährt fort: »Jesse, das Problem ist, daß
ich deine Werte mit der Zeit überaus attraktiv fand. Ich meine,
ich fing an, darüber nachzudenken… nun, du hast immer
gesagt, ich wäre schön, und ich fing an, mir Gedanken
darüber zu machen, wie es wohl wäre, nur deswegen
Aufmerksamkeit zu erregen. Und draußen in der Wüste…
ich meine, es war bedeutungslos, total bedeutungslos, wir haben die
Natur nur benutzt, weil es schön war, ohne die Natur
überhaupt zu verstehen, aber trotzdem… – o Jesse, es
war so schön. Und dann noch die Orgasmen.«
    »Orgasmen?«
    Sie schluchzt. »Du weißt es doch noch, oder? Ich habe
es dir doch erklärt.«
    Er weiß es durchaus noch. »Du meinst, der weibliche
Orgasmus befände sich im Einklang mit der Welt, oder so
ähnlich?«
    »Das ist es ja, was ich sagen will, du hast nicht einmal
begriffen, wie wichtig das war und daß du zuhören und es
richtig machen mußtest.« Sie schnieft. »Der Punkt
ist, der weibliche Orgasmus ist nonzentrisch,

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