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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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und
schlägt den Bericht bei einer beliebigen Seite auf. Als er
hereinkommt, übergeht sie die Grußformel und legt direkt
los: »Harris, du schleimiger alter Schreiberling, warum, zum
Teufel, hast du mir einen derart nichtssagenden Bericht
vorgelegt?«
    »Weil, Chefin«, sagt er, stellt den Aktenkoffer ab und
beugt sich über den Schreibtisch zu ihr hinüber, »wir
nicht das Geringste wissen.«
    Sie lachen, denn sie sind Freunde seit zwanzig Jahren. Die Lage
ist nicht zum Lachen, aber sie sind froh, daß sie einander
haben.
    * * *
    Yeats regte sich auf, weil die Dinge auseinanderfielen und das
Zentrum nicht imstande war, sie zusammenzuhalten. Das eigentliche
Problem bestand indessen darin, daß das Zentrum seine Existenz
bereits beendet hatte.
    Es tauchte langsam in die Nonexistenz ab, analog zum konstanten
Rückzug und ewigen Kompromiß, Paradigmen, welche die
beiden letzten Jahrhunderte des Römischen Reiches markiert
hatten.
    Eisenstein hatte herausgefunden, daß man die Dinge nur ihres
Anscheins entkleiden, die wesentlichen Aspekte einer Geschichte
nehmen und sie mit einem schlichten ›Splint‹ fixieren
mußte, so daß sie so stringent war, als ob ein
Erzähler von Dickens gesagt hätte: ›Nun, lieber
Leser…‹; der Geschichtenerzähler stand jedoch nicht
mehr im Mittelpunkt der Geschichte.
    Einstein hatte nämlich herausgefunden, daß es
möglich war, jeden beliebigen Ort als Mittelpunkt zu
definieren.
    Gertrude Stein hatte eruiert, je mehr rosa Rosen es gab, desto
weniger assoziierte man sie mit der Farbe Rosa und dem rosentypischen
Duft, und um so mehr näherte sie sich Burns ›Liebe‹
oder jeder anderen Rose an.
    Die RAND Corporation demonstrierte, daß im Falle eines
Atomkriegs ein Staat auch ohne Staatsoberhaupt seine
Handlungsfähigkeit behielt, und graue Wirtschaftsgnome mutierten
zu den verspielten Kobolden der Netzwerke.
    Hitler, Stalin, Roosevelt und Churchill hatten versucht, das
Zentrum zu restaurieren, aber zu diesem Zweck mußten sie jedes
Haus mit Radios ausstatten, und das Pontifikat verliert seine
Bedeutung, wenn man die Bettler persönlich berühren
muß; der zunehmende Kontakt des Zentrums mit der Peripherie
beschleunigte nur seine Auflösung.
    Die alte zentralistische Kommunistische Partei versagte derart bei
der Opposition gegen den Korea-Krieg, daß viele Amerikaner
überhaupt nichts von dem Krieg wußten, aber
dreißigtausend Mimeographen und zweitausend
Universitätssender trugen den Kampf gegen den Vietnam-Krieg in
die entlegensten Winkel des Landes, und während die Reporter der
öffentlich-rechtlichen Medien die mutmaßlichen Köpfe
der mutmaßlich nationalen, mutmaßlichen Organisationen
befragten, wurde ihnen schon der Boden unter den Füßen
weggezogen. Im Jahre 1980 galt die Losung Think Globally, Act
Locally, und nur die wenigsten scherten sich um die globale
Komponente. Selbst das Verteidigungsministerium entwickelte das
Konzept des AirLand Battle, das man als kollektive Gewalt auf
lokaler Ebene definieren könnte.
    Im Jahre 2028 haben die Dinge eine Evolution durchlaufen. Das
Zentrum befindet sich jetzt dort, wo man gerade steht.
     
    Als Harris Diem die Unterredung mit der Präsidentin beendet,
ist er müde, und dabei ist es noch früh am Morgen. Wieder
ein Zehn-Minuten-Gespräch, wieder ein Stück Geschichte,
überlegt er. Das größte Problem bei seinen Memoiren
wird wohl darin bestehen, den Lesern plausibel zu machen, daß
es sich wirklich so abgespielt hat, die ganze Zeit – man betrat
Brittany Lynn Hardshaws Büro, sie stellte einem sechs Fragen,
und dann bekam man plötzlich den Auftrag, die ganze
amerikanische Geschichte zu ändern.
    Vorausgesetzt, das funktioniert überhaupt.
    Er denkt darüber nach, reibt sich die Schläfen, dreht
und reckt den Kopf. Er wird einen verläßlichen Mitarbeiter
brauchen, und es gibt kaum einen besseren als Henry Pauliss.
Außerdem wird er veranlassen müssen, daß
ungefähr vierzig absolut loyale NOAA-Mitarbeiter beschattet
werden. Das ist aber auch kein Problem.
    Er muß wieder mal einige Zeit in seinem Keller verbringen.
Er ist schon seit Wochen nicht mehr dort gewesen…
    Heute abend hätte er Zeit, wenn er denn wollte. Interessantes
Lexem, dieses ›wollte‹. Wenn morgen sein Haus niederbrannte
und alles, was dort unten versteckt war, in Flammen aufginge,
würde er wahrscheinlich vor Erleichterung weinen… bis
wieder dieses Summen an der Schädelbasis einsetzte, und
dafür gab es keine Linderung.
    Er kann es jetzt hören,

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