Die Mutter aller Stürme
sich
im Zipline- Abteil zurück und denkt nach. Seine
Metamorphose zu einem einflußreichen Studentensprecher wird
sich wohl nicht realisieren lassen. Außerdem wird Naomi erst in
einigen Monaten zurückkehren, und dann werden sie zunächst
wieder zusammenfinden müssen, wobei ihr seine Veränderung
erst einmal auffallen muß, und – das Problem besteht
darin, daß es einfach zu lange dauern würde. Andererseits
glaubt er auch nicht, daß es ihr recht wäre, wenn er ihr
jetzt nach Mexiko nachfahren würde.
Aber er ist nun einmal ein Maschinenbaustudent. Und TechsMex, die Unternehmensgruppe, welche Ingenieure und
Praktikanten als Ausbilder in den Süden schickt, hat immer freie
Stellen. Direkt nach Tehuantepec zu gehen, wäre vielleicht etwas
zu auffällig, aber er könnte sich ja zumindest in derselben
Region, in Oaxaca, stationieren lassen…
Er wählt TechsMex an und geht die Stellenangebote
durch. Das gestaltet sich nicht so leicht, wie er es sich vorgestellt
hat – es gäbe zwar zehn für ihn passende Stellen, aber
die befinden sich überwiegend in Ciudad de Mexico oder noch
weiter im Norden…
Bei dem einzigen Angebot tief im Süden, in der Nähe von
Tehuantepec – wobei ›in der Nähe‹ ein sehr
relativer Ausdruck ist – handelt es sich um eine Tutorenstelle
für angehende Maschinenbaustudenten in einer kleineren
Oberschule in Tapachula, fast an der Grenze zu Guatemala. Selbst die
Luftlinie nach Tehuantepec beträgt dreihundertfünfzig
Kilometer, und so weit im Süden gibt es noch keine Ziplines.
Aber dann kommt ihm der Gedanke, daß er sich dicht am
Äquator befände und in der Abgeschiedenheit einer kleinen
Grenzstadt wertvolle Arbeit verrichten könnte – und er
hätte einmal Ruhe vor seinen alten Freunden. Von einer Flucht
vor einer unglücklichen Liebschaft liest man eigentlich immer
nur in Büchern, aber ein Grund für ein solches Vorgehen
könnte schlicht darin bestehen, daß es wirkt.
Er beschließt, heute abend eine Entscheidung zu treffen. In
der Zwischenzeit kann er die aktuellen Nachrichten sehen. Zum Teufel,
er beschließt, sich einmal richtig gehen zu lassen; er fixiert
das Mikrofon und schaltet sich in XV zu, wobei er sich einen
ausgesprochen niveaulosen Kanal aussucht. Er kommt gerade
rechtzeitig, um in die Identität von Rock zu schlüpfen und
dann noch einmal in die von Synthi Venture (damals, als Teenager,
hatte ihm das immer großes Vergnügen bereitet), bevor sie
in Urlaub geht. Es ist großartig, vor allem dann, als er
anfängt, zwischen ihnen zu pendeln; ihr Geschlechtsverkehr ist
so leidenschaftlich, gewalttätig und ekstatisch, daß nach
Beendigung des Akts Jesse den Leuten vom Christlichen XV recht
geben muß, wenn sie sagen, im Falle einer wahrhaft konsequenten
Anwendung des Diem- Gesetzes wäre Doug Llewellyn, der
Präsident von Passionet, schon längst auf dem
elektrischen Stuhl gelandet.
Die Türen offenen sich im Bahnhof von Tucson, und der Zipline wünscht Jesse noch einen schönen Tag. Er
schultert die Reisetasche und tritt wieder in das helle Sonnenlicht.
Es sind noch mehrere Stunden bis zur Party heute abend, noch mehrere
Stunden, bis er etwas bewirken kann. Vielleicht wird er solange noch
lernen.
Berlina Jameson genießt das Frühstück, zum Teil,
weil es gratis ist, und hauptsächlich deshalb, weil sie sich
dabei in Gesellschaft befindet. Haynes Lamborghini, der Reporter
für den Textkanal der New York Times, hat sie zum
Frühstück eingeladen, weil heute sein letzter Tag in Barrow
ist und sie Freunde geworden sind.
»Dann übernimmst du also die ›Ich habe niemanden
zum Reden‹-Geschichte«, sagt er. »Und mach dir auch
schon einmal Gedanken über den Vertrieb, falls das nicht schon
geschehen ist. Dir steht fast das ganze Bildmaterial zur
Verfügung. Vom historischen Standpunkt ist es einfach zu
wertvoll, um es irgendwo verrotten zu lassen oder zu warten, bis es
ins Archiv kommt.«
»Ich dachte immer, ihr Text-Leute mögt kein
Video.«
»Ist aber immer noch besser als XV«, erklärt
Lamborghini. Er nimmt noch einen Schluck Kaffee. »Junge, was ich
sicher nicht vermissen werde, ist der Kaffee hier. Sie gleichen das
fehlende Aroma aus, indem sie ihn verdünnen. Der Punkt ist,
Berlina, die Kamera ist nicht objektiv, und TV ist etwas für
Analphabeten, aber XV ist es noch immer um Lichtjahre überlegen.
Zumindest weiß man, was sich vor der Kamera abspielt, und
wenigstens spüren die Leute ihre eigenen Gefühle anstatt
die des Reporters. Und die
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