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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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ein
kleines Kind, daß die Hälfte der Belegschaft sie gleich
zweimal anschaut – sie erkennen sie erst auf den zweiten Blick,
obwohl sie wissen, daß sie im Haus ist –, und die andere
Hälfte geht an ihr vorbei, ohne überhaupt Notiz von ihr zu
nehmen.
    Ein Stapel Agenturmeldungen erwartet sie in ihrem Zimmer, und es
ist ein wunderbares Gefühl, sie ungelesen wegzuwerfen. Sie ruft
nach einem Pagen.
    Es erscheint derselbe, der ihr an dem Morgen, als sie ihren
Entschluß faßte, auch schon das Frühstück
gebracht hat – wenn man eine Entscheidung, die man kurz vor dem
Zusammenbruch getroffen hat, denn als solche bezeichnen will. Jetzt,
wo sie darüber nachdenkt, erscheint er ziemlich oft bei ihr;
vielleicht liegt es an ihrem hohen Trinkgeld, vielleicht ist es aber
auch Loyalität. Wie auch immer, im Moment ist sie dankbar
für alles, was nach menschlicher Gesellschaft aussieht.
    »Oh«, sagt er, »ich schätze, es wird eine
Weile dauern, bis Sie das wieder tun.« Seine Konversation ist
noch immer etwas krampfhaft; weil sie ihm aber zu verstehen gegeben
hat, daß sie sich gern mit ihm unterhält – und mit
Kellnern und Portiers und auch sonst mit jedem – hat sie sich
mittlerweile daran gewöhnt.
    »Ja. Willst du mein geheimes Reiseziel wissen?« fragt
sie ihn.
    »Es wird kein großes Geheimnis mehr sein, wenn Sie es
überall herumerzählen.« Er zieht ihren
Gepäckwagen in den Aufzug, und die Tür gleitet hinter ihnen
zu. Zwei Stockwerke, dann hinaus zur Limousine, mit der Limousine zum
Flughafen und dann ins Flugzeug.
    »Die Sensations-Kanäle werden es morgen ohnehin
bringen«, erklärt sie. »Zum Glück sind die
meisten Leute gar nicht in der Lage, einen XV-Darsteller zu
identifizieren, der nicht gerade im XV auf Sendung ist, und dort, wo
ich hingehe, ist XV sowieso kaum verbreitet. Also kann ich es dir
ruhig sagen, und du kannst es dann weitersagen.«
    Er grinst. »Na gut, dann sagen Sie’s mir. In Mike’s Saloon in Yukon habe ich bereits bei vielen Leuten
mit unseren Unterhaltungen Eindruck geschunden.«
    »Nun, dann sieh zu, daß du dieses Gespräch heute
abend schon verbreitest, denn morgen wissen es alle. Ich gehe nach
Tapachula. Das ist eine Stadt in Südmexiko, an der Grenze zu
Guatemala.«
    »Gibt es dort etwas Besonderes? Wofür ist die Stadt denn
bekannt?«
    »Gewöhnliche Leute mit gewöhnlichen Berufen, sonst
nichts«, erwidert sie. »Außer vielleicht Ruhe und
Frieden. Die Art von Stadt, die jeder meidet, wenn er die Orte kennt,
wo etwas los ist.«
    Sie stehen jetzt vor der Limousine, und sie tritt dicht an ihn
heran, gibt ihm sein Trinkgeld und sagt: »Wenn du so
zärtlich wie Rock sein kannst, darfst du gern herausfinden, wie
es ist, mich zu küssen.«
    »Das wird mir niemand glauben«, murmelt er
errötend, und als er sie dann wirklich küßt, ist es,
als ob ein sensibler Vierzehnjähriger die Lippen des von ihm
verehrten Mädchens berührt. Wenn Rock im XV auch so
rüberkommt, ist es kein Wunder, daß er ein so großes
Publikum hat.
    Als sie sich voneinander lösen, wirkt er ein wenig
verdattert. »Wie bin ich denn nun im wirklichen Leben?«
fragt sie ihn.
    »Süß«, findet er. »Und zärtlich.
Überhaupt nicht wie im XV, aber es war sehr, sehr schön.
Danke.«
    »Ich danke dir«, sagt sie. »Wenn du mal nach
Tapachula kommen solltest, halte Ausschau nach einer verlotterten
Amerikanerin, die nur faul herumsitzt und schöne, dicke
Trivialromane liest.« Sie geben sich die Hand – ein fast
feierlicher Vorgang –, und dann rezitiert sie noch eine Strophe,
die sie einst auf der Bühne gesprochen hatte, als sie noch Mary
Ann war, Lauras letzte Strophe am Ende von Tee und Sympathie
– »›Wenn du später darüber sprichst
– und du wirst es tun –, dann sprich nur
Gutes‹.«
    Er nickt, sie verabschieden sich voneinander, und sie steigt in
die Limousine und nennt als Fahrtziel ›Flughafen‹. Die
Türen des Fahrzeugs schließen sich, es fährt aus dem
Parkplatz auf die Straße, und sie ist unterwegs.
    Wenn sich ihre Einstellung gegenüber XV nach diesem Urlaub
nicht geändert hat, wird sie vielleicht von ihrem ersparten Geld
als Privatier leben, wieder in New York für eine Rolle
vorsprechen und als richtige Schauspielerin tätig sein… und
sich mit Hotelpagen verabreden. Der Witz ist gar nicht mal so gut,
aber dennoch lacht sie auf dem ganzen Weg zum Flughafen
darüber.
    * * *
    Einer der Gründe, weshalb niemand es zur Kenntnis nimmt, wenn
John Klieg und Glinda Gray zusammen

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