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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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und einmal lehnt er
sich mit einem Gesichtsausdruck zurück, als ob er
schließlich eine Lösung gefunden hätte, aber jedesmal
zögert er und sagt dann doch nichts.
    Jesse nickt emphatisch, um die Schwierigkeit der Frage zu
unterstreichen und winkt dem großen Kellner (der immer leicht
grinst, als ob jeder Gast gerade etwas Lustiges getan hätte oder
vielleicht etwas unpassend gekleidet wäre). Zwei weitere Biere,
die leicht salzige einheimische Sorte, die hier zu
Meeresfrüchten getrunken wird, werden stumm vor Jesses und Joses
Ellbogen plaziert, während Jose sich mit dem Problem
auseinandersetzt, wieviel Schuld Jesse Naomi wohl schuldig sei.
    Jesse nippt an seinem Glas, genießt das Gefühl, wie das
kühle Bier durch den Schlund rinnt und merkt, daß er
selbst auch fast schon betrunken ist.
    Plötzlich wird Joses Blick schärfer und klarer, und
endlich spricht er. »Nein.«
    »Nein?«
    »Nein, compadre, nein.«
    »Dann glaubst du also nicht, es wäre falsch, Naomi nur
wegen ihres großartigen Körpers zu begehren?«
    »Ein großartiger Körper?« fragt Jose.
    »Du weißt schon. Große Titten.«
    »Ja, die hat sie.«
    Jesse kommt ein Verdacht, und er lehnt sich zurück, um Jose
intensiver zu mustern. Es ist schon spät am Tag, und in dieser
Nähe zum Äquator wird es selbst im Sommer schon um 19:30
Uhr dunkel, so daß er nur die Reflexionen von Joses Gesicht im
hellen Schein der Kerze sieht; seine Augen liegen im Schatten,
weshalb er ihren Ausdruck nicht ergründen kann.
»Weißt du denn noch, wie die eigentliche Frage
lautete?« fragt Jesse schließlich.
    »Nein. Aber die Antwort ist immer noch ›nein‹, compadre«, erwidert Jose grinsend. »Denn im Grunde, paco, fragst du ja nur, ob du dich weiter um Naomi
bemühen sollst, und die Antwort darauf kann in jedem Fall nur nein lauten.«
    Jesse rückt ein paarmal und sagt dann: »Du hast
recht.«
    »Ich weiß, daß ich recht habe.«
    »Ich habe schon zu viel Zeit damit verschwendet, mich zu
betrinken und über sie nachzudenken, nicht wahr?«
    »Auf jeden Fall denkst du zuviel über sie
nach.«
    »Vielleicht sollte ich heute früh zu Abend essen und
dann schlafen gehen«, sinniert Jesse.
    »Ich werde es zwar bedauern, meinen Saufkumpan zu verlieren,
aber es ist deine Gesundheit, Jesse.« Joses Gesichtsausdruck
wird unvermittelt ernst. »Freundschaft ist zwar wichtig, aber du
mußt dich auch um dein Wohlergehen kümmern. Die
nächsten Tage solltest du mal keinen draufmachen, sondern dich
regenerieren, und dann fahren wir beide vielleicht mit dem Bus an die
Küste, gehen morgens fischen und verbringen den Nachmittag am
Strand mit der Suche nach gelangweilten gringas in ihren
knappen Badeanzügen; du kannst das Reden übernehmen, und
ich kümmere mich dann um den Rest. Jetzt solltest du aber gehen,
du siehst nämlich nicht gut aus.«
    Jesse steht auf und läßt so viel Geld auf den Tisch
fallen, daß er seine Zeche begleicht und den größten
Teil von Joses Rechnung dazu, und dann sagt er: »Ich glaube, ich
habe hier unten bessere Freunde, als ich gedacht hatte.«
    »Unsere Freundschaften sind besser als eure, und wir brauen
auch das bessere Bier. Andererseits macht ihr noch immer die besten
Hamburger und die besten Action-Filme.« Jose sagt das mit einem
solchen Pathos, daß Jesse lachend auf seinen Stuhl
zurückfällt. Als er sich beruhigt hat, steht Jose auf,
komplettiert den Stapel Münzen auf dem Tisch und sagt:
»Gehen wir ein Stück zusammen.«
    Während sie die hell erleuchtete avenida in
nördlicher Richtung am Zócalo entlanggehen, erwidert
Jesse zum ersten Mal die Blicke einiger Frauen; daraufhin kichern sie
und schauen weg. Er vermutet, daß sie ihn überhaupt nicht
mehr ansehen würden, wenn er eine von ihnen gezielt
anlächelte.
    Jose registriert das und legt ihm leicht die Hand auf die
Schulter. »Jetzt siehst du, wie leicht man darüber
hinwegkommt, wenn man es wie ein Mexikaner macht.«
    Ihre Wege trennen sich einen Häuserblock hinter dem
Zócalo, und Jesse stellt erfreut fest, daß er gar nicht
betrunken ist und diese Nacht wahrscheinlich gut schlafen wird; jetzt
ist gerade die Zeit für eine frühe cena, aber er ist
nicht hungrig und beschließt daher, direkt zu dem kleinen
Bungalow zu gehen und sich schlafen zu legen.
    Als er in eine spärlich beleuchtete Straße einbiegt,
sieht er, daß die ihm entgegenkommende Frau rote Haare hat. Das
verwundert ihn so sehr, daß er sich umdreht und sie im
Zwielicht mustert; sie trägt ein lappiges Flanellhemd

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