Die Mutter aller Stürme
über
einem sackartigen Baumwollrock und Sandalen. Man könnte fast
meinen, sie wäre eine Mitarbeiterin eines der regionalen
Ausbildungszentren oder eine Lehrerin, aber Jesse kennt praktisch
jeden norteamericano im Umkreis von fünfzig Kilometern
– die Mitarbeiter der verschiedenen Hilfsorganisationen lassen
sich anhand ihrer Kleidung identifizieren –, und er erinnert
sich nicht, sie jemals gesehen zu haben.
Natürlich könnte sie auch nur eine Touristin sein, aber
niemand trägt die Kluft der Linken, wenn er nicht zu ihnen
gehört, und kein Linker geht als Tourist ins Ausland – nur
zu Arbeitseinsätzen. Also ist sie aller Voraussicht nach eine
Neue… und wenn Jesse in dieser Hinsicht über
Urteilsvermögen verfügt, dann verbirgt sich unter diesen
sackartigen Klamotten ein mindestens ebenso wohlgeformter Körper
wie der von Naomi. Es verhält sich nun weniger so, daß er
einen Plan entwirft, sondern er sieht die Gelegenheit und ergreift
sie, bevor sie ihm entwischt. »He, du bist doch sicher auch
nicht von hier«, sagt er auf englisch, in der Hoffnung,
daß sie eher aus den Staaten, Pazifikanada oder Alaska als aus
Quebec kommt.
»Mach kein Scheiß«, erwidert sie, aber sie
lächelt ihn dabei an. Dieses Lächeln kommt ihm irgendwie
vertraut vor, und er geht einen Schritt auf sie zu, um zu sehen, ob
sie nicht vielleicht doch eine Bekannte ist, die er nur nicht gleich
erkannt hatte.
Sie weicht einen Schritt zurück, und für einen Moment
glaubt er, sie hätte Angst vor ihm – oder vielleicht will
sie auch nicht, daß er sie richtig sieht, denn nun liegt ein
langer Schatten auf ihrem Gesicht. Jetzt erkennt er, daß ihr
von der Straßenbeleuchtung angestrahltes Haar extrem rot ist,
eine jener Tönungen, die man nur durch eine Injektion
erhält.
Er kommt nicht näher, fragt aber: »Gehörst du zu
einer der Organisationen, die hier unten tätig sind? Die Leute
treffen sich nämlich immer, und deshalb dachte ich, ich
würde dich vielleicht kennen. Oder bist du neu hier?«
»Nun, ich bin nicht neu hier – ich mache hier schon
ziemlich lange Urlaub«, entgegnet sie, »und ich trage diese
Klamotten, weil sie meinen Körper kaschieren, denn bei meiner
Figur interessieren die hiesigen machos sich für mich,
besonders wegen der Haare und der weißen Haut. Normalerweise
kann ich abends einen Spaziergang wagen, ohne belästigt zu
werden, sofern ich unsichere Straßen meide.«
»Oh – hm, Entschuldigung«, meint Jesse und wendet
sich zum Gehen.
»Schon gut, ich habe dich ja nicht gemeint. Aber wenn du
zufällig wegen meiner Figur auf mich aufmerksam geworden bist,
dann sollte ich dir vielleicht sagen, daß ich eine alte Frau
bin. Über dreißig – nicht einmal annähernd das,
worauf du stehst.« Nun tritt sie vor. Obwohl sie sie
offensichtlich regelmäßig entfernen läßt,
registriert Jesse kleine Krähenfüße um die Augen und
einige Linien um den Mund, und ihr Gesichtsausdruck verrät,
daß sie schon einiges erlebt hat und vom Leben ziemlich hart
gebeutelt worden ist. Plötzlich fühlt er sich wie ein
kleines Kind.
Aber sie sieht noch immer blendend aus. Ȁh, wenn Sie
sagen, ich bin zu jung, dann stimmt das wohl, aber Sie sind eindeutig nicht zu alt«, entfährt es ihm.
Das entlockt ihr ein derart warmes und freundliches Lächeln,
daß er es erwidert und sich entspannt. Diese kleine Begegnung
ist vielleicht merkwürdig, aber auf eine gewisse Art auch
lustig.
Die rothaarige Frau kommt noch einen Schritt näher und
flirtet mit ihm, aber nicht auf die Art, die er von gleichaltrigen
Mädchen mit ihrer ›komm-her-geh-weg‹-Masche kennt. Ihr
Lächeln ist offen und warm, und er hat das unbestimmte
Gefühl, daß sie vielleicht noch interessierter ist als er,
obwohl er selbst schon sehr interessiert ist.
»Das hast du aber nett gesagt«, meint sie. »Darf
ich fragen – äh… klingt das aber arrogant und dumm
– kennst du mich?«
»Das ist weder arrogant noch dumm«, erwidert er und
macht seinerseits einen Schritt nach vorne. »Sie kommen mir
bekannt vor, aber das muß schon länger her
sein…«
»Hast du mal die Nachrichten via Rock oder Quaz
erlebt?«
Ihm sackt der Unterkiefer hinab; das ist ihm noch nie passiert,
aber er ist froh, daß er nur die Kontrolle über die
Kiefermuskulatur verliert, denn ihm wird auch schwach in den Knien,
und er würde am liebsten in Ohnmacht fallen.
»Sie sind Synthi Venture?« Er glaubt es fast nicht,
daß er ihr diese Frage stellt und daß sich das
ausgerechnet in einer
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