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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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beschleunigte und verdichtete sich um die
Zentralsäule; für die nachströmende Warmluft wurde es
zusehends schwieriger, einen Weg ins Zentrum zu finden und sich an
die nunmehr kilometerdicke Säule aus aufsteigender Warmluft
anzulagern.
    Der Eintrag von so viel Warmluft in die kalte
Troposphärenluft zeitigt auch noch andere Effekte. Während
die Luft expandiert, sich abkühlt und wieder zu Boden sinkt,
kondensiert Wasser, und große, dicke Wolken formieren sich um
die Säule aus warmer Luft, was dem Gebilde das Aussehen eines
gigantischen Pilzes verleiht; der durch die absinkende Kaltluft und
die allgemeine Thermik in diesem Sektor bereits aufgekommene Sturm
jagt die Cumulonimbus-Wolken vor sich her, wobei ihre schnelle
Zirkulation einen Kondensator mit hoher Kapazität simuliert, so
daß das Meer von einer dichten Wolkenbank verdunkelt wird und
ein Gewitterregen niedergeht.
    Nun ist der Augenblick gekommen.
    Die sich an der Basis der aufsteigenden Säule kumulierende,
spiralförmig einfallende Luft ist zu dicht geworden, als
daß noch mehr Luft nachstoßen könnte; der die
Säule umgebende Ring aus komprimierter Luft rotiert unter dem
Zufluß weiterer Luftmassen immer schneller, steigt außen
an der Säule empor und hüllt sie in einen immer
stärker werdenden Wirbelwind. Die von der weiteren Luftzufuhr
abgeschnittene Zentralsäule löst sich auf, bis der Druck
weit unter das normale Niveau abfällt; der sie umhüllende
›Korkenzieher‹ aus aufsteigender Luft erreicht die
Tropopause und pumpt nun die nachströmende Warmluft mit weitaus
höherem Druck an der Unterseite der Tropopause entlang.
    In dem Maße, wie die Luft an der Tropopause verdrängt
wird, strömt unten auf der Erde Luft nach. Die Spiralbewegung
wird mit jeder Minute schneller. Und die Distanz, aus welcher der
Sturm neue Warmluft ansaugt, nimmt ebenso schnell zu.
    Wolken in dem Ring aus dahinjagender Luft werden zerrissen und
bilden eine sich schnell bewegende weiße Wand; Wolken werden
aus der Säule gerissen und lösen sich auf, so daß ein
aufgewühltes, grünes Meer von einem klaren Himmel
überwölbt wird.
    Die Zentralsäule ist zu einem ›Auge‹ geworden, und
der Sturm hat sich zu einem Orkan ausgewachsen.
     
    Jesse erkennt, daß das größte Problem, welches
ein von Liebeskummer befallener Mensch in einem so verdammt
freundlichen Ort wie Tapachula hat, darin besteht, daß binnen
weniger Wochen nicht nur jeder über den endgültigen Bruch
mit Naomi Bescheid weiß, sondern ihm auch mit tröstlichem
Rat zur Seite steht. Die Empfehlungen, die er von den
Macho-Männern erhält, läuft im Endeffekt darauf
hinaus, die chica endlich zu vergessen und sich eine andere zu
suchen; die romantischen Ratschläge, die hauptsächlich von
den älteren Frauen kommen, besagen, daß er in seiner
Leidenschaft nicht nachlassen dürfe, und selbst wenn er Naomi
nicht bekäme, wäre er dennoch ein sehr schmucker Junge; und
der pragmatische Tip, den er von den drei minderjährigen Huren
bekommt, an denen er jeden Abend nach der Arbeit vorbeiläuft,
besagt, daß er seinem Kummer zumindest physiologisch durch
einige simple Verrichtungen abhelfen könne, die sie ihm gern
einmal demonstrieren würden.
    Er lächelt immer nur höflich und hört sich die
Macho- und romantischen Ratschläge geduldig an; was den
pragmatischen Ansatz betrifft, so verspürt er gelegentlich den
Drang, es auszuprobieren, aber dann ist dieses Bedürfnis auch
wieder nicht so dringend, um die Würdelosigkeit ernsthaft in
Betracht zu ziehen.
    Ansonsten ist Tapachula kein schlechter Ort für ein
gebrochenes Herz. Die seltsamen, eckigen Bäume des Zócalo
werfen tausend dunkle und tiefe Schatten, die hervorragend dafür
geeignet sind, hineinzustarren und sich vorzustellen, daß Naomi
aus ihnen heraustreten würde; der Ost- und Südrand des
Zócalo wird von Cafes gesäumt, so daß er viel Platz
hat, sich niederzulassen, etwas zu trinken und sein Herzeleid zu
kultivieren.
    Außerdem findet abends immer die Promenade statt. Sie hat
zwar keine Ähnlichkeit mit den Reiseführer-Beschreibungen
von ›stolzen jungen Männern in farbenprächtiger
lateinamerikanischer Tracht und glutäugigen Señoritas
unter den wachsamen und grimmigen Blicken ihrer Gouvernanten‹
–, aber welcher Tourist würde sich auch schon für
›Männer, die nach einem Arbeitstag in der Fabrik duschen,
ihre guten Sachen anziehen und mit jungen Frauen flirten, die auch
geduscht und ihre guten Sachen angezogen haben‹

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