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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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Da könnte man ja gleich zu Hause in die Einkaufspassage
gehen.
    Selbst wenn die Promenade kaum den Beschreibungen im Baedeker
gerecht wird, Jesse gefällt sie dennoch. In gewisser Weise wirkt
Jesse wie ein jugendliches Idol des zwanzigsten Jahrhunderts; man
kann alle möglichen Heldengestalten in ihn hineinprojizieren,
und daher sind die meisten jungen Frauen, die vorbeischlendern,
darauf konditioniert, Männer mit Jesse Äußerem
attraktiv zu finden, obwohl es hier nicht allzu viele davon gibt. Ein
gebrochenes Herz zu pflegen macht ja viel mehr Spaß, wenn einem
alle paar Minuten eine Schönheit mit langem schwarzen Haar
leicht zunickt oder einen verstohlenen Blick mit einem netten
Lächeln und blitzenden weißen Zähnen zuwirft und -
mit dem richtigen Hüftschwung – eine straff über
hohen, festen Brüsten sitzende Bluse oder einen knappen Minirock
über einem knackigen jungen Hintern vorführt. Für ein
gebrochenes Herz ist das fast so gut wie das Bier, das sie hier
ausschenken.
    Und auf eine absurde Weise kommt ihm das noch bei seiner Arbeit
zugute; weil er nämlich auf kein bestimmtes Mädchen
reagiert, gibt er den jungen Männern, mit denen er arbeitet,
auch keinen Grund zur Eifersucht. Sie betrachten sein Liebesleben
anscheinend als einendes Band; eine solche Situation ist nämlich
auch für einen jungen Mexikaner nachvollziehbar, obwohl Jesse im
Hinterkopf durchaus weiß, daß er sich diese
Befindlichkeit nur wegen des Wohlstands seiner Familie leisten kann
– da er keine Frau hat, die er seines Elternhauses verweisen
müßte, braucht er sich auch keine Gedanken über
eventuell verpaßte Gelegenheiten zu machen, während er den
Melancholiker mimt.
    Die Sache hat nämlich auch ihr Gutes. Er beherrscht jetzt
endlich den Stoff des Grundstudiums, weil er nun schon seit zwei
Monaten in spanischer Sprache das Äquivalent dieser Materie
vermittelt, und irgendwie hat die Kombination des Transfers in andere
Worte und Strukturen zusammen mit der ständigen Wiederholung die
Inhalte in seinem Gehirn eingeprägt. Er sagt sich, ohne falsche
Bescheidenheit, daß er nach seiner Rückkehr an die U des
Az die Seminare ohne große Schwierigkeiten mit guten Noten
abschließen wird.
    Abends sitzt er fast immer in einem Straßencafe und
konsumiert beschauliche drei Bier pro Stunde, so daß er sich
nach drei Stunden schön beschwipst fühlt und nach der cena nach Hause trottet und sich schlafen legt.
    Oft setzt sich einer seiner Studenten – der vielleicht vom
Promenieren gelangweilt ist, vielleicht etwas über Jesse
erfahren will oder vielleicht nur hofft, daß bei einer der
flanierenden Frauen etwas von Jesses Glanz auch auf ihn abfärbt
– zu ihm und trinkt einen mit. In einem solchen Fall tritt der
Rausch in der Regel schneller ein, denn die Sache endet fast immer in
einem Wettstreit, wer dem anderen mehr Biere ausgeben kann.
    An solchen Abenden haben auch die Macho-Ratschläge
Konjunktur, und sie sitzen da und erörtern die Körper der
vorbeigehenden Frauen – in Kontrast zu Naomis Körper.
Manchmal glaubt Jesse, er müßte sich eigentlich
darüber ärgern, was im Grunde aber nicht der Fall ist
– und überhaupt, hatte er denn jemals viel mehr von ihr
gewußt, als daß er ihren Körper mochte und allen
möglichen abstrusen Deeper- Mist heucheln mußte, um
ihn zu bekommen?
    Das kommt ihm fast schon wie eine philosophische Betrachtung vor,
aber zum Glück kann er sich heute abend mit Jose unterhalten,
der eine Neigung für Philosophie hat. Es dauert eine Weile, bis
er ihm die Problematik erläutert hat: ob er sich nun schuldig
fühlen oder schämen soll, weil er sich eben nicht schuldig
fühlt und auch nicht schämt. Jose hat indes gewisse
Verständnisprobleme; nicht etwa, weil er schwer von Begriff
wäre, sondern weil er bereits ziemlich angetrunken ist – er
hat schon vor Jesse angefangen und ist zudem ein routinierterer
Kampftrinker, der seinen Sport ernstnimmt.
    Schließlich gelingt es Jesse doch, Jose detailliert und
umfassend mit der Thematik vertraut zu machen; ist er es Naomi
schuldig, sich nach der ganzen Zeit, die sie zusammen waren und nach
all den Gesprächen, die sie geführt haben, schuldig zu
fühlen, sind es nicht die Gespräche oder ihr Verstand, den
er vermißt, nicht einmal die großen braunen Augen und das
seidige Haar, sondern schlicht die vollen, weichen Brüste in der
Hand?
    Jose stellt diesbezüglich lange Überlegungen an. Zweimal
hebt er den Finger, als ob er sich melden wollte,

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