Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
fünfundzwanzig Meter hohen und einen Meter achtzig dicken Mauern. Josef hatte es noch nie zuvor gesehen, doch er wusste sofort, worum es sich handelte.
»Die Höhle von Machpela«, flüsterte er.
Sie war eines der wichtigsten Heiligtümer von ganz Judäa. Für manche kam sie gleich an zweiter Stelle nach dem Großen Tempel. Denn so einfach ihre weißen Steinmauern auch waren, beschützten diese Mauern unter sich doch etwas Außergewöhnliches: die letzte Ruhestätte von Abraham. Dem Vater des Judentums.
Laut Legende hatten Abraham und seine Frau Sara darum gebeten, in einer Höhle unter Hebron bestattet zu werden. Seit Jahrtausenden kamen die Gläubigen zu dem versiegelten Höhleneingang, um für den Mann zu beten, der Zwiesprache mit Gott gehalten, und für die Frau, die Isaak und Ismael zur Welt gebracht hatte.
Herodes hatte ein Bauwerk über der heiligen Stätte errichten lassen – ein weiteres selbstloses Geschenk an seine jüdischen Untertanen. Und auch wenn viele fanden, das Monument entstelle Abrahams Grabstätte, reisten die Menschen doch tagelang, um an seinen Mauern zu beten. Um über den Gebeinen des Mannes zu beten, von dem sämtliche Juden abstammten, von Isaak über Mose bis hin zu David. Josef hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt, selbst die Pilgerfahrt zu unternehmen, doch die Gelegenheit hatte sich nie ergeben. Bis jetzt.
Jetzt konnte er die Höhle vor sich sehen. Und trotz der Widrigkeiten, die Josef hergeführt hatten, konnte er dem Drang nicht widerstehen, sich den Pilgern anzuschließen, die auf die Mauer des Heiligtums zuströmten, um mit dem Herrn Zwiesprache zu halten. Das sagte er auch den anderen.
»Bist du verrückt?«, fragte Balthasar. »Wir haben keine Zeit, um zum Beten anzuhalten. Wir müssen unsere Vorräte auffüllen und so schnell wie möglich aus Hebron verschwinden.«
»Wenn wir je Gottes Gehör gebraucht haben«, sagte Josef, »dann jetzt. Außerdem so nahe zu sein und nicht meine Aufwartung zu machen … es wäre eine Sünde.«
»Sünde hin oder her, ich werde dir nicht dabei zusehen, wie du vor einer Mauer betest. Ende der Diskussion.«
»Dann kommt eben nicht mit«, sagte Maria. »Mein Mann und ich werden alleine hingehen, während ihr Vorräte beschafft.«
»Wir trennen uns auf keinen Fall«, sagte Balthasar. »Nicht, solange die ganze Welt nach uns Ausschau hält.«
»Und nach wem halten sie Ausschau?«, fragte Maria. »Nach vier Männern, einer Frau und einem Baby. Wenn wir zusammenbleiben, ziehen wir nur noch mehr Aufmerksamkeit auf uns.«
Balthasars Kiefer verspannten sich. Er hasste diese Frau. Wie sie aussah, wie sie redete, als wüsste sie alles. Doch was er wirklich hasste, war, dass sie – zumindest in diesem Fall – recht hatte. Sie würden weniger Aufmerksamkeit erregen, wenn sie sich trennten. Aber ich werde hier sitzen und dich noch einen Augenblick böse anstarren, bloß damit klar ist, wie sehr ich dich verabscheue.
»Schön«, sagte er schließlich. »Wir treffen uns in einer Stunde am Südtor. Wenn ihr nicht dort seid, ziehen wir ohne euch weiter.«
Maria erwiderte Balthasars bösen Blick. Bloß damit klar ist, dass ich keine Angst vor dir habe.
»Südtor«, sagte sie. »In einer Stunde.«
Nachdem die Kamele an der Straße der Palmen festgebunden waren, gingen die Flüchtlinge ihre eigenen Wege.
Die Weisen gingen nach links auf den Basar zu, auf dem Caspar und Melchyor ihr letztes gestohlenes Gold gegen alles eintauschen wollten, was sich dafür kaufen ließ, und Balthasar sich dem Diebstahl von mehr Gold widmen würde. Josef, Maria und das Baby hielten sich nach rechts, in Richtung der Höhle von Machpela. Sie drängten sich durch ein Meer aus gläubigen Pilgern, um dem uralten Stammvater ihres Glaubens ihre Aufwartung zu machen.
Josef klammerte sich verzweifelt an Maria, weil er fürchtete, sie und das Baby würden im Strom der Leiber fortgerissen werden, wenn er losließe. In dem Bereich um das Monument war es sogar noch schlimmer – Menschen zuhauf und unerbittliches Getöse. Musikanten, die Becken aneinanderschlugen und an Harfen zupften. Kaufleute, die die Gläubigen lockten, alle möglichen Andenken zu kaufen. Es gab Opferziegen und -ochsen, die meckerten und schrien, Geldwechsler, die Münzen ausschütteten. Und über dem Ganzen der Lärm von tausend Stimmen, die tausend Gebete murmelten.
Und dann waren da die Propheten. Die schreienden Propheten, die an allen Seiten des Monuments Hof hielten und von ihren behelfsmäßigen
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