Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
damit verbrachten, einander flüsternd Dinge anzuvertrauen, die sie noch nie zuvor zu flüstern gewagt hatten. Und Nächte, diese unglaublich warmen Nächte, die sie Hand in Hand über die Kolonnadenstraße spazierten. Sich ans Ufer des Orontes stahlen und sich im Licht der Sterne auszogen. Ins Wasser wateten und einander zugewandt dastanden, unter der Oberfläche aneinandergeschmiegt. Die Nacktheit des anderen im schwarzen Wasser spürend. Das gleiche Wasser, durch das Balthasar gewatet war, hin und zurück zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Doch diese Dinge waren weit weg, wenn er mit ihr zusammen war. In diesen Augenblicken war es einfach vollkommen, und das würde es immer sein, als hätte das Schicksal sie genau an diesen Ort geführt – jedenfalls wenn man an Torheiten wie das Schicksal glaubte. Als wäre er geschickt worden, um sie aus ihrer Einsamkeit zu erretten. Auf sie aufzupassen. Und als wäre sie geschickt worden, um im Gegenzug ihn zu retten. Herrgott, es war so bescheuert schwindelerregend und erotisch und perfekt gewesen.
Und dann, wie ein Skorpion, der einen Passanten in den Fuß stach, wurde alles in einem einzigen Moment zum Einsturz gebracht.
Einfach so.
Es war ein großes Haus, egal, welche Maßstäbe man anlegte, besonders für eine alleinstehende Frau. Im Erdgeschoss gab es zwei Schlafzimmer, eines, in dem Sela in den letzten fünf Jahren allein geschlafen hatte, und eines, in dem sie gearbeitet hatte, wenn sich Arbeit finden ließ. Sie grenzten an eine riesige Wohnküche mit einem Tisch und Stühlen und Läufern, die jeden Zentimeter des Bodens bedeckten. Oben gab es drei kleinere Schlafzimmer. Der ehemalige Besitzer hatte sie mit Kindern gefüllt. Doch Sela hatte nie einen Verwendungszweck dafür gehabt. Bis zu diesem Abend.
Draußen war eben erst die Dämmerung hereingebrochen, doch die meisten Flüchtlinge hatten sich entschuldigt und für die Nacht nach oben zurückgezogen, darauf bedacht, dem Schweigen zu entkommen, das seit ihrer Ankunft auf dem Haus lastete. Balthasar schmollte allein in einem der Schlafzimmer, kümmerte sich um sein verletztes Gesicht und Ego und verfluchte die ganzen schwindelerregenden und erotischen und perfekten Erinnerungen, die seinen verwirrten Geist nach der langen Abwesenheit überflutet hatten. Er lag auf dem Rücken und starrte aus zwei Veilchen an die Decke. Durch die rechte Wand hörte er Caspars und Melchyors Flüstern und von links Josefs tiefes, rhythmisches Schnarchen. Er wusste nicht zu sagen, welches Geräusch er mehr hasste. Oder ob er sie überhaupt hasste. Oder ob er einfach alles hasste.
Ich hätte nicht herkommen sollen. Ich hätte wissen müssen, dass sie so reagieren würde.
Das Ganze war so dumm, so kindisch. Er war ein Dieb. Der Geist von Antiochia. Die Geißel Roms. Und nun sehe man ihn sich einmal an! Kümmerte sich um ein Baby und zwei religiöse Eiferer. Blutig geschlagen von einer Frau. Ein Loch in der Brust. Das römische Heer auf den Fersen.
Von den sechs Flüchtlingen blieben nur Maria und das Baby nach Sonnenuntergang im Erdgeschoss zurück. Sela saß mit ihnen im Wohnbereich am Tisch und beobachtete das fünfzehnjährige Mädchen ihr gegenüber – nicht viel älter als ich war, als ich ihm begegnete –, das das winzige schrumpelige Geschöpf in einer Schüssel voll warmem Wasser badete. Die blauen Babyaugen waren weit geöffnet, zuckten umher und sahen alles an, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Sein Kopf war an eine Schulter gelehnt, um seinem winzigen Hals die Last zu erleichtern, und die Überreste seiner Nabelschnur hatten sich schwarz verfärbt, waren über seinem Bauchnabel zusammengeschrumpft und schienen jeden Moment abfallen zu wollen.
Sela schwieg fasziniert und beobachtete ihn. Lauschte den unbeabsichtigten Hicksern und Gurrlauten, die seinem Körper entfuhren, während ihm seine Mutter sanft den Wüstenstaub von der zarten Kopfhaut wusch. Sela hatte nie ein Geschwisterchen gehabt, keine Cousins oder Cousinen, um die sie sich gekümmert hätte. Soweit sie sich erinnerte, hatte sie noch nie ein Baby auch nur gehalten. Abdi war für mich noch am ehesten so etwas wie …
»Vermietest du Zimmer?«, fragte Maria.
Es war eine vernünftige Frage angesichts der Tatsache, dass das Haus größer war, als es für die meisten alleinstehenden Frauen nötig wäre oder sie sich ohne Einkommen leisten könnten.
»Nein«, sagte Sela. »Aber ich arbeite. Hier unten … in einem der Zimmer.«
Auf einmal war es
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