Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
besah sich die anderen Menschen vor ihrer Haustür: drei Männer, eine sehr junge Frau und ein Baby. Allen standen die Münder sperrangelweit offen. Alle sahen sie an und fragten sich, ob sie selbst als Nächstes an der Reihe wären. Selas Brust hob und senkte sich bei jedem heftigen Atemzug, während sie sich die Haare aus den Augen schob und sagte: »Tretet ein.«
Er war sechzehn, als er sie das erste Mal sah. Nur vier Jahre älter, als er bei seinem ersten Grabraub gewesen war, aber hundert Jahre weiser.
Er erinnerte sich an den Tag, die Stunde, ihre Kleidung, das Licht. Er war auf dem Nachhauseweg vom Forum, wo er einst inmitten des Lärms und des allgemeinen Wahnsinns Taschendiebstähle begangen und für so armseligen Lohn so viel riskiert hatte. Doch jetzt nicht mehr. Nun lagen die Dinge anders. Er musste keine Diebstähle begehen, Komplizen auszahlen und Hinweise mit einem Teil des Gewinns belohnen. Dieser Tage besuchte Balthasar das Forum, um Geld auszugeben, nicht um welches zu verdienen. Und auszugeben gab es reichlich, dank seines genialen Einfalls, seiner Erkenntnis, dass es leichter war, die Toten auszurauben als die Lebenden.
Fast jede Nacht seit jener ersten Plünderung war Balthasar durch das dunkle Wasser gewatet und zu den Toten zurückgekehrt, die die Römer auf der anderen Uferseite des Orontes verscharrt hatten. Fast jede Nacht, solange der Mond nicht zu hell schien, oder die Wachen zu nahe waren, hatte er die frisch eingescharrten Leichen der Verurteilten ausgegraben. Anfangs hatte er Angst gehabt, ja, besonders wenn er sehr grausige Funde ausbuddelte. Menschen, die enthauptet oder gesteinigt worden waren. Da man sie gerade erst vergraben hatte, war ihr Blut oft noch nicht getrocknet, ihr Gesichtsausdruck fast noch lebendig. Ganz allein im Dunkeln war Balthasars junge Vorstellungskraft in den ersten Wochen mit ihm durchgegangen: Er hatte gesehen, wie sie die Augen aufschlugen, hatte gespürt, wie ihre kalten Finger seine Arme packten. Doch im Laufe der Monate waren diese Halluzinationen seltener geworden, und die Angst nahm mehr und mehr ab, bis er eines Tages merkte, dass sie völlig verschwunden war.
In den zwei Jahren seit seinem genialen Einfall war Balthasar so schnell geworden, dass er zehn Leichen in einer einzigen Nacht ausnehmen konnte, vorausgesetzt, die Henker waren ordentlich beschäftigt gewesen – er grub sie aus, plünderte und vergrub sie anschließend wieder in der Wüste, ohne dass die Römer ahnten, dass er da gewesen war. Füllte sich die Taschen mit ihren Ringen und Ketten, mit ihrem Silber und Gold und ihrer Seide. Und das alles ohne einen einzigen Komplizen. So viel mehr Lohn, und dabei nur ein Bruchteil des Risikos.
Einen Monat nachdem Balthasar angefangen hatte, hatte er so viel gestohlen, dass er seine Familie in ein neues Viertel umsiedeln konnte. Ein Jahr später zogen sie wieder um – diesmal in ein Haus, das einst einem römischen Aristokraten gehört hatte. Seine Schwestern hatten neue Stoffe, mit denen sie nähen konnten. Abdi hatte neue Kleidung und Spielzeug. Und seine Mutter hatte alles, was eine Mutter sich nur wünschen konnte: ein neues Haus, das sie in Schuss halten konnte, reichlich Lebensmittel zum Kochen, einen neuen Ofen, um die Speisen darin zuzubereiten, Teppiche, um darauf zu sitzen, Öllampen, die ihr leuchteten. Zwar wusste Balthasar, dass sie einen gewissen Argwohn angesichts ihres neuen Reichtums hegte, allerdings fragte sie ihn nie, woher das Geld stammte oder wohin er jede Nacht verschwand. Nur einmal, kurz bevor sie in das Haus des Adeligen zogen, war sie nahe daran gewesen. Als Balthasars Mutter das Haus zum ersten Mal erblickte, zog sie ihn beiseite, sah ihm direkt in die Augen und sagte: »Bevor ich unter diesem Dach schlafe, versprich mir eines.«
»Alles, Mama.«
»Versprich mir, dass unser Glück nicht auf Kosten eines anderen geht.«
Er sah sie einen Augenblick lang an und haderte innerlich mit der Vorstellung, seine Mutter direkt anzulügen. Genauer gesagt haderte er, weil er nicht wusste, wie er es überzeugend bewerkstelligen sollte. Einerseits ging ihr Glück ganz bestimmt auf Kosten anderer. Wenn man es genau nahm, hatten andere Menschen für ihr Glück mit dem Leben bezahlt. Andererseits hatte sie ihm ein ziemlich großes Hintertürchen gelassen. Genau genommen entwendete er die Wertgegenstände denjenigen, die gar keine Verwendung mehr dafür hatten. Eine Kette oder einen Goldring zu besitzen änderte nichts an der
Weitere Kostenlose Bücher