Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
an nichts fehlen. Er war ein ruhiger, gütiger Mann. Und obwohl er nie von seiner verstorbenen Frau sprach, wusste Sela, dass er immer noch um sie trauerte. Er liebte seine einzige Tochter abgöttisch, und im Gegenzug widmete sie ihr Leben seinem Glück – indem sie die üblichen kindlichen Beschäftigungen sein ließ, um stets an seiner Seite zu sein. Es klang alles ziemlich angenehm, wie sich Balthasar jetzt erinnerte. Angenehme Tage, die angenehm verstrichen und ineinander übergingen, bis sie eine relativ angenehme, wenn auch ereignislose Kindheit bildeten.
Und dann, wie ein Skorpion, der einen Passanten in den Fuß stach, wurde Selas angenehmen Tagen ein jähes und gewaltsames Ende gesetzt. Ihr Vater beging den Fehler, sich mit einem Mitglied der römischen Provinzverwaltung geschäftlich anzulegen. Es handelte sich um einen Gehilfen eines Beraters des von Rom ernannten Statthalters von Antiochia. Und auch wenn Balthasar sich nicht mehr an die Einzelheiten der Auseinandersetzung erinnerte – etwas bezüglich eines versprochenen versus des tatsächlich bezahlten Preises –, erinnerte er sich noch an das Ergebnis:
In jener Nacht wurde Selas Vater von einem Hämmern an der Tür geweckt, man schleifte ihn aus seinem Haus, während seine Tochter die gesichtslosen Soldaten um sich herum kratzte und schlug. In eben jener Nacht wurde er ohne Gerichtsverhandlung zum Henker geschickt, geköpft und lieblos in der Wüste verscharrt. Alles aufgrund der Laune eines namenlosen ausländischen Bürokraten mittleren Ranges. Alles wegen einer geschäftlichen Auseinandersetzung. Einfach so. Derart schnell geschahen diese Dinge.
Balthasar erinnerte sich noch an den eiskalten Schauder, der ihn von den Zehen bis in die Fingerspitzen durchrieselt hatte, als sie ihm dies erzählte. Und auch wenn er ihr nie von seinem Geschäft mit den Toten erzählte, nicht an jenem Abend oder an irgendeinem anderen, würde er sich noch oft fragen, ob ihr Vater unter den Leichen gewesen war, die er am anderen Ufer des Orontes ausgegraben hatte. Ob ein kleiner Teil seines Glücks auf Selas Kosten ging.
Seit dem Tod ihres Vaters war ein Jahr vergangen, und hier war sie. Vierzehn. Ganz allein in einem großen Haus. Sie gab sich große Mühe, so gut über die Runden zu kommen, wie es ein ehrliches Mädchen vermochte, doch es gelang ihr nicht sonderlich. Hier war sie, wischte sich die Tränen weg und sagte einem Jungen etwas, den sie eben erst getroffen hatte. Sagte es, als glaubte sie es voll und ganz: »Ich schwöre … bevor ich sterbe … werde ich mit ansehen, wie ganz Rom zu Schutt und Asche niederbrennt.«
Balthasar erinnerte sich noch, wie er damals dachte: Tja, das ist einmal ein nettes Bild … ganz Rom in Flammen. Ein wunderschönes Mädchen, das lachend von einem Hügel über der Stadt zusah – die warmen Winde, die von dem Feuer unten herrührten, ließen das Haar um das Antlitz des Mädchens tanzen.
Balthasar sagte, dass er ihr glaubte. Auch wenn er insgeheim bezweifelte, dass irgendein Heer, geschweige denn ein einzelner Mensch etwas Derartiges vollbringen könnte. Doch es bestand keinerlei Zweifel an ihrer Entschlossenheit. Der Zorn, den ihr Körper verströmte, war spürbar wie die Hitze der Steine um ein Feuer, noch lange, nachdem die Flammen erloschen sind. Und er war berauschend, dieser Zorn. Zorn und Schönheit, Traurigkeit und Einsamkeit, alles vermischt in einem Gesicht.
Er erinnerte sich an einen Kuss und das Wissen, hoffnungslos und für immer verliebt zu sein.
Danach waren angenehme Tage angenehm ineinander übergegangen. Balthasar hatte das ehrliche, beschützt aufgewachsene Mädchen, das er auf der Veranda angetroffen hatte, unter seine Fittiche genommen und ihm beigebracht, wie man kämpfte, wie man stahl, wie man besser über die Runden kam. Er hatte Sela eine Seite von Antiochia gezeigt, die sie dank des Wohlstands und der Abgeschiedenheit ihrer Jugend nie kennengelernt hatte. Er liebte sie abgöttisch, sorgte für sie, verbrachte jede freie Minute an ihrer Seite, Abdi oft im Schlepptau. Sela hingegen schlüpfte in eine ihr vertraute Rolle und widmete ihr Leben ganz seinem Glück. Zwang Balthasar, die Stirn zu entrunzeln. Zwang ihn zum Lachen. Zeigte ihm eine Seite von Antiochia, die er erst kürzlich entdeckt, aber nie richtig kennengelernt hatte.
Sie erlebten die Art Tage, die in der Erinnerung alter Menschen golden leuchten. Tage, an denen es nichts als Hoffnung gab und eine Ewigkeit vor ihnen lag. Tage, die sie
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