Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
Tatsache, dass sie tot waren, nicht wahr? Er machte sie nicht noch unglücklicher, als sie bereits bei ihrem Tod gewesen waren, nicht wahr? Deshalb konnte er im Grunde völlig aufrichtig sagen: »Ich verspreche es.«
Balthasar war versucht gewesen, es ihr zu erzählen, genau wie er versucht war, es den anderen Dieben zu erzählen. Doch er hatte den Mund gehalten. Er verlor kein Wort über seine Geschäfte mit den Toten. Nicht gegenüber seiner Familie und ganz besonders nicht gegenüber den anderen Taschendieben. Ihn trieb nicht die Angst um, dass sie sein Verhalten missbilligen könnten, auch wenn es manche gewiss nicht gutheißen würden, dass er die alten abergläubischen Bräuche verletzte. Was er wirklich fürchtete, war ihre Konkurrenz. Balthasar wusste, dass er nicht der einzige Junge war, der über ein paar gesellschaftliche Gepflogenheiten und Leichen hinwegsehen konnte. Vor allem, wenn es so viel Geld zu holen gab, das dort bloß im Sand herumlag, und das man sich nur zu nehmen brauchte.
Nein, er hatte zufällig eine Schatzkammer gefunden, die sich ständig wieder füllte, und er würde sie mit niemandem teilen. Nicht solange die Römer so viele Männer und deren Schmuck zum Henker schickten. Nicht solange alles so wunderbar lief.
Und dann sah er sie, und alles ging zum Teufel.
Er befand sich auf dem Nachhauseweg vom Forum und trug einen Sack Getreide durch die Kopfsteinpflasterstraßen seines Viertels. Es war ein Viertel, das die »besseren« Familien von Antiochia beherbergte. Familien wie die unsere. Gewöhnlich starrte er beim Gehen auf seine Füße, während ihm unzusammenhängende Gedanken und Bilder durch den Geist schossen.
Etwas Lustiges das Abdi gesagt es ist bewölkt draußen heute Leichen wird es nachts wohl meine Füße tun so Vater irgendwas gespürt bei seinem Tod.
An dem Tag, in dem Augenblick sah er jedoch auf. Und als er dies tat, bot sich ihm ein geradezu übernatürliches Bild. Zuerst hielt er es für einen Geist. Den Geist eines schönen Mädchens, der so real war wie die Halluzinationen, die er früher immer bei den Gräbern gehabt hatte. Sie saß allein auf der kleinen Veranda vor einer einstöckigen Backsteinvilla – eines der netteren Häuser in der Gegend.
Sie war das Schönste, was er je gesehen hatte, und sie weinte sich die Augen aus.
Ein eigentlich unmöglicher kleiner Sonnenstrahl drang durch die Wolken und beschien ihr den Rücken, sodass der Umriss ihres Haars loderte und ihr dieses geisterhafte, jenseitige Aussehen verlieh. Sie war von Geburt Syrerin, wie er. Doch Balthasar wusste auf der Stelle, dass sie überhaupt nicht wie er war. Dies war ein Mädchen, das nicht schon von Kindesbeinen an für seinen Lebensunterhalt gestohlen hatte. Das nie Hunger gelitten hatte.
Aber du hast es auch nicht leicht gehabt. Nein, du hattest eine schreckliche Zeit auf dieser Erde. Und irgendwie macht dich das doppelt so schön, auch wenn ich nicht weiß, wieso, oder ob es überhaupt möglich ist, dass du NOCH schöner sein kannst, als du ohnehin schon bist.
Wie es der Zufall wollte, blickte Sela just in dem Moment auf, und da stand ein Junge mitten auf der Straße, einen Sack Getreide über der Schulter, und starrte sie wie ein blödes Tier an. Sein Körper war erstarrt, und ihm stand der Mund offen, während er ihr beim Weinen zusah.
»Was guckst du?«
»Ich … ähm …«
»Findest du es komisch, da rumzustehen und mich anzuschauen?«
»Nein!, Nein, ich …«
»Lass mich in Ruhe!«
Sie drehte sich weg, verschränkte die Arme und wartete darauf, dass der Junge ging. Und sie wartete.
»Nein«, sagte er.
Was im Anschluss geschah, war Balthasar nur bruchstückhaft im Gedächtnis geblieben: Sela, die aufschaute und ihn zornig durch ihre Tränen anstarrte, furchtbar schön und gefährlich. Er erinnerte sich, dass er den Sack auf den Boden fallen ließ, all seinen Mut zusammennahm und sich neben sie setzte. Dass er sie fragte, was los sei. Dass sie sich widersetzt und dann nachgegeben hatte. Und als sie einmal damit anfing, ihm alles zu erzählen, erinnerte er sich, dass sie bis lange nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aufhörte. Es war die Variation einer Geschichte, die er schon so oft gehört hatte. Noch eine Leidensgeschichte unter den römischen Besatzern.
Sela war ein Einzelkind, ihre Mutter war gestorben, als sie noch ganz klein war. Zu klein, um sich an ihr Gesicht zu erinnern, ihre Stimme, ihre Berührung. Doch ihr Vater, ein erfolgreicher Importeur, ließ es ihr
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