Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
Maria peinlich, dass sie das Thema angesprochen hatte. Natürlich. Sie wusste, welcher Art von »Arbeit« Sela nachging. Eine schöne Frau ohne Ehemann, ohne Kinder? Eine schöne, kultivierte Frau, die reichlich Geld zu hab…
»Ich bin keine Hure, falls du das denken solltest.«
»Was?«, fragte Maria. »Nein! Nein, das habe ich nicht … das habe ich nicht gedacht.«
Sela sah mit an, wie sich die Wangen des Mädchens tiefrot verfärbten. Nein … natürlich nicht – deshalb errötest du auch und tust so empört.
»Ich bin Hellseherin«, sagte Sela.
»Oh …«
»Die Bauern bezahlen mich dafür, dass ich das Wetter vorhersage. Die Frauen bezahlen mich, damit ich ihnen vorhersage, wie viele Kinder sie haben werden. Wir setzen uns, ich mache meine Beschwörungen, sie bezahlen mich. Allerdings laufen die Geschäfte nicht sonderlich gut seit der Heuschreckenplage. Keiner braucht eine Wahrsagerin, um zu wissen, dass die Lage in Be’er Scheva noch für eine lange, lange Zeit mies sein wird.«
»Und du … weißt diese Dinge? Diese Antworten, nach denen sie suchen?«
»Ich weiß, was die Leute hören wollen.«
Die Röte wich aus Marias Wangen, und sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Wahrsagerei war nicht viel besser als Prostitution, vor allem wenn die »Sagerei« nicht wahr war, sondern aus glatten Lügen bestand. Von einem religiösen Standpunkt aus war das Wahrsagen noch schlimmer. Die Heilige Schrift untersagte es ausdrücklich. Für Gott war Sela eine falsche Prophetin. Und falsche Propheten waren Ketzer. Und Ketzer, tja …
»Alles in Ordnung?«, fragte Sela. »Du siehst besorgt aus.«
Maria wusch weiter die Haut des Babys, wobei sie gedankenverloren in eine dunkle Ecke des Zimmers starrte, während sich vor ihrem geistigen Auge Selas ewige Verdammnis vollzog. Auf einmal hatte sie das Gefühl, einer Leprakranken gegenüberzustehen. Als wäre Selas Sünde ansteckend. Sie verspürte das greifbare Verlangen, ihr Baby an sich zu reißen und es vor jener Sünde zu schützen. Sie von seinem Körper abzuwaschen. Unter diesen Umständen war das am wenigsten Beleidigende, was ihr in den Sinn kam: »Es ist bloß … ich glaube, ich könnte die Leute nicht anlügen.«
»Warum nicht? Du hast mich angelogen.«
Maria blickte jäh auf. Die Visionen der Verdammnis waren mit einem Mal verschwunden. »Habe ich nicht.«
»Aber sicher doch.«
»Warum behauptest du …«
»Als ich dir sagte, ich sei keine Hure, war das genau das, was dir durch den Kopf ging. Aber du hast auf dem Gegenteil bestanden. ›Nein, nein, nein – das würde mir niemals einfallen!‹«
Maria errötete erneut.
»Sieh mich an, und sage mir, dass ich unrecht habe.«
»Ich … ich wollte nur höflich sein.«
»Mhm. Du lügst, um höflich zu sein. Ich lüge, um hoffnungslosen Menschen ein bisschen Hoffnung zu geben und dabei ein wenig Geld zu verdienen. So oder so, wir lügen beide.«
Maria mochte diese Frau nicht. Sie wollte nicht hier sein. Sie mochte gar nichts von alldem hier. Zum tausendsten Mal, seit Josef und sie Nazareth verlassen hatten, überkam sie heftiges Heimweh. Sie sehnte sich nach den vertrauten Gesichtern des Dorfes, dem Essen und den Geräuschen und Gerüchen. Nach dem spirituellen Trost, den man empfand, wenn man von anderen Gläubigen umgeben war. Ihr Mann und sie waren allein in der großen weiten Welt. Einer schrecklichen Welt voller Mörder und Heiden und Hungersnöte, voller niederträchtiger Diebe und ansteckender Sünde. Sie waren allein, und sie trugen eine unmögliche Bürde: das Wichtigste, das jemals gelebt hatte, vor den mächtigsten Männern auf der ganzen Welt zu beschützen. Und, Gott, er war so klein …
Herodes blickte auf den leichenblassen Körper unter sich. Schweigend und reglos. Ihre Augen waren offen und traten hervor. Spucke trocknete an ihren Mundwinkeln.
Es war nicht deine Schuld , dachte er. Du warst einfach am falschen Ort, als mich die Nachricht erreichte. Du warst einfach da, als ich etwas umbringen musste.
Herodes bereute es wohl, sie umgebracht zu haben. Doch in gewisser Hinsicht hatte er ihr einen Dienst erwiesen. Man bedenke nur einmal das ganze Elend, das ihr erspart blieb. Man denke nur einmal an die ganzen enttäuschenden Jahre, die vor ihr gelegen hätten. Jahre, in denen sie älter geworden wäre, jemanden zum Mann genommen hätte. Seine Kinder zur Welt gebracht hätte. Ihr Körper hätte sie im Stich gelassen, ihre Schönheit wäre im Laufe der Zeit
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