Die nachhaltige Pflege von Holzböden
den Neunzigern war ich einmal auf einer Geburtstagsparty gewesen, wo der Gastgeber unter anderem ein »Magisches Auge« geschenkt bekam â ein buntes, krisseliges Rechteck, in dem man angeblich die New Yorker Skyline erkennen konnte, wenn man lange genug draufstarrte. Die anderen Gäste jubelten reihenweise begeistert, wenn der Trick funktionierte, aber für mich blieb es einfach nur ein polychromes Durcheinander. Geh näher ran, sagten die anderen, schau mal undeutlich, am Bild vorbei, schiel ein bisschen, versuchâs nicht so verbissen. Ich starrte und starrte, und sie sahen mich alle mit der gleichen Miene an wie jetzt die Museumswärterin, so eine Art kultischer Eifer.
Ich deutete auf die Mauer. »Was soll ich denn da sehen?«
Noch ehe ich den Arm wieder senken konnte, packte die Alte mich am Handgelenk und zog mich zielstrebig näher. Ich ächzte entsetzt auf, doch sie trug immer noch dieses entschlossene, fast manische Grinsen zur Schau. Ihr Griff war wie Stahl, und um mich loszureiÃen, hätte es eines kraftvollen Rucks bedurft, zu dem ich mich absolut nicht in der Lage fühlte. Sie war vielleicht doppelt so alt wie ich, und doch konnte ich mir nicht vorstellen, wie ich mich aus diesem entsetzlichen Griff befreien sollte. Meine Muskeln waren wie Packen von nassem Klopapier. Sie zog meine Hand vorwärts, bis mein Zeigefinger sich in eins der Löcher im Stein bohrte. Wie viele Jahrzehnte von Dreck sind da drin? , fragte ich mich. Plötzlich war mein Handgelenk wieder frei â sie hatte meine Hand mit dem Finger in dem rauen kleinen Loch losgelassen. Das Loch war tief, mein Finger verschwand fast darin. Es konnte wohl kaum von irgendeinem natürlichen Erosionsprozess stammen, und es gab sehr viele von der Sorte.
»Peng!«, sagte die Frau plötzlich. »Peng, peng!« Sie mimte Gewehrschüsse. Das hätte komisch aussehen können, aber mir war nicht zum Lachen zumute.
»Peng!«
Jetzt kapierte ich und riss den Finger heraus, als hätte ich ihn mir verbrannt. Diese Pockennarben waren Einschusslöcher. Die Seitenwand des Museums war von Kugeln durchsiebt worden. In welchem Krieg oder Volksaufstand? Wer hatte gegen wen gekämpft? Hatte es überhaupt mit Kampf zu tun? Oder hatten sie da einfach Leute an die Wand gestellt? Revolutionsjustiz. Konterrevolutionsjustiz.
Die Museumswärterin grinste mich immer noch an. Sicher hatte sie gemerkt, dass ich jetzt wusste, was ich da ansah. Wahrscheinlich dachte sie, Touristen wollten so etwas sehen â original echte Geschichte. Sie hatte mich ganz klar als Ausländer erkannt. Vielleicht wusste sie aus Erfahrung, dass Touristen von den Ausstellungsstücken im Museum nicht sonderlich erbaut waren und dagegen ein morbides Interesse an der Geschichte zeigten, die in dessen steinernen Körper eingemeiÃelt war. Besonders alt kamen diese Narben mir nicht vor; überhaupt schien das meiste an Geschichte hierzulande neueren Datums zu sein. Fernsehsendungen wie Ich ⥠die Achtziger gab es hier sicher nicht viele, dafür die Erinnerung an Mangelwirtschaft, Ausgangssperren und Leute, die verschwanden. Die Löcher in der Wand waren ein sprechendes Zeichen jener Zeit. Sie machten mir Gänsehaut.
Ich strich mit den Fingerspitzen über ein Loch auf Brusthöhe. Am Grund dieses Lochs im massiven Stein war ein Bleiklumpen. Wo war er hindurchgegangen, bevor er in die Mauer einschlug? Erst die Luft voller Kommandorufe und Schreie, dann Haut und Muskeln, Knochen und Blut? War das Blut abgewaschen worden, oder war es ein Bestandteil der schwarzen Dreckschicht auf der Wand? Und wessen Blut überhaupt? Warum vergossen? Wofür? Faschisten? Kommunisten? Nationalisten? Dissidenten? Loyalisten? Monarchisten? Kollaborateure? Widerständler? Waren es die Blutzellen von Freiheitskämpfern oder von Terroristen? Wer damals gewonnen hatte, würde das jetzt bestimmen. Gesichtslose Idealisten â oder nichts als eine Kugel, die durch die von vergessenen Parolen widerhallende Luft peitschte, um sich in diesen toten Stein einzugraben, der sich noch an sie erinnert. Die Parolen sind der Stille gewichen, und ein Mann aus einem unbeteiligten Land sieht die Narbe, aber nicht den, der sie hinterlieÃ, weder die Zeit, in der er lebte, noch die Sache, für die er kämpfte. Alles vergangen, und übrig ist Müll und Ruin.
Die Museumswärterin, diese seltsame Person, die mich hierher gebracht
Weitere Kostenlose Bücher