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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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beide jünger als Fritz, dann aber offenbar zu späten Mädchen geworden, nie verheiratet - die Spur aus Wiesbaden. Den kleinen Nachzügler namens Wolfgang, auf den der Kollege Strakka so scharf war, gab es offenbar auch. Und ich war mir auf einmal ziemlich sicher, dass dies die fehlenden Unterlagen aus dem Bundesarchiv waren.
    Die restlichen Kopien stammten von Formularen mit abgefahrenen Überschriften wie »Erbgesundheitsbogen« oder »Genehmigung der Eheschließung«. Über von Jagemanns Braut urteilte ein Untersuchungsbericht: »Erscheinungsbildlich, gesundheitlich und erbgesundheitlich geeignet.« Und über die künftige Ehe insgesamt: »Fortpflanzung im bevölkerungspolitischen Sinne wünschenswert.« Mit einem Stempel wurde schließlich der Eintrag ins »Sippenbuch der SS« genehmigt, eine Art Biosiegel der Herrenrasse: »Besonders wertvoll« stand da - ohne Quatsch!
    Das Feixen verging mir erst bei den Abschiedsbriefen, die Carl von Jagemann kurz vor seiner Hinrichtung an seine Familie geschrieben haben musste. Es waren dünne Schreibmaschinendurchschläge mit vielen Tippfehlern, die zumindest von eine gewissen Nervosität zeugten. Seinen Söhnen aber erklärte er, dass harte Männer auch in Zukunft gebraucht würden: »Männer, die Befehle auszuführen verstehen und dafür geradestehen, ohne zu klagen.«
    Nach einer halben Stunde kam Busch in die Kantine geschlendert, zog eine weitere Cola und setzte sich schweigend an meinen Tisch. Sein Bart bebte, da konnte er noch so lässig tun. Ich war nur unsicher, ob er darüber reden wollte. Er wollte.
    »Weißt du, wer meine Bänder hat?«
    »Du meinst unsere Bänder. Nein - wer?«
    »Matti hat sie einfach diesem Schiller ausgehändigt. Du weißt schon: dem Pinscher von der Thorwart. Einfach so, ohne Not. Die haben gefragt, und er hat sie rausgerückt. Kein richterlicher Beschluss. Nichts! Der hat doch den Arsch offen, oder?«
    »Hast du ihm das auch so gesagt - ich meine: nur damit ich mich schon mal um einen neuen Job kümmern kann?«
    »Das kannst du so oder so. Ich jedenfalls bin weg, sobald ich meine Bänder wiederhabe. Ohne die sind wir erledigt. Dann glaubt uns kein Schwein mehr irgendwas und wir bleiben für immer die Nazitrottel. Genau deshalb müssen wir erstmal weiter mitspielen, verstehst du? Aber dann!«
    Er streckte einen Mittelfinger aus der geballten Faust. Mitspielen sah ihm nicht gerade ähnlich, dachte ich. Aber er trank ja auch plötzlich Cola pur.
    »Und was hast du vor?«
    »Wir sollen jetzt zur Strafe erstmal auf eine Pressekonferenz - du weißt schon: wegen dieser riesigen Demo heute Abend.«
    »Worum geht’s da noch mal - wieder Frieden und so?«
    »Mann, Monse! Gegen Fremdenfeindlichkeit. Nazis. So eine Lichterkettenveranstaltung. Die Thorwart ist auch da. Wahrscheinlich wollen sie noch ein paar Leute mobilisieren. Demonstration als Bürgerpflicht. Antifaschismus von oben. Apropos Faschisten: Gibt es was Neues von deinen Jungs?«
    Seine Bänder, meine Jungs; unerschütterlich war seine Wahrnehmung. Ich zeigte ihm die Kopien aus dem Archiv. Gerd wunderte sich nicht einmal mehr, wie Matti da rangekommen war. Aber er kannte sich ziemlich gut aus:
    »Schau mal an, ein Sippenbuch. Das waren die Edelgermanen für die Arterhaltung. Zuchtexemplare. Blut und Hoden. Na ja, wenn man Fritz so sieht ... Und reichlich Geschwister hat er auch: Gisela, Liesbeth, Wolfgang, geboren 1943. Das könnte ja...«
    »Liesbeth?! Wo steht Liesbeth?«
    »Moment ... Ach so, nein: Elisabeth steht da, aber egal. Meine Tante Liesbeth heißt eigentlich auch Elisabeth. Das ist eine Kurzform, verstehst du, wie Elli oder Lisa heutzutage?«
    Ich verstand und strich hektisch den Artikel über die Alten-WG aus meiner Hosentasche glatt. Welche von beiden war es? Wem sollte ich die Aktentasche übergeben? Elisabeth von Jagemann - seine geliebte Liesbeth - seine Schwester?
    »Was ist das für ein Foto?« Gerd zauberte seine Lesebrille aus der Jackentasche und verwendete sie als Lupe.
    »Irgendein Altenheim im Westen.«
    »Wiesbaden«, murmelte Gerd und pfiff durch die Zähne.
    Ich saß neben ihm und machte womöglich ähnliche Geräusche: Eine Geschwisterliebe also. Blutschande. Oder sagt man das heute nicht mehr so? Versteh mich nicht falsch, Evelyn, man muss ja vorsichtig sein mit manchen Begriffen. Und Blutschande klingt schon irgendwie so ... keine Ahnung, nicht ganz koscher jedenfalls.
    Wenn du einmal begriffen hast, worum es wirklich geht, klingt vor allem alles plausibel.

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