Die Nachhut
Warum tat er das? Weil er anfangs selbst Feuer und Flamme war? Weil er sich deshalb nun umso mehr für die angebliche Ente schämte?
»Wo ist das Küken?«, fragte Gerd.
»Nicht mehr hier«, sagte Matti, »und damit wir uns richtig verstehen: Du hast dich genauso verarschen lassen und die Provokation hinter dem Bunkerunsinn scheinbar bis jetzt nicht begriffen. Wie der letzte Anfänger hast du dich vor den dreckigen Karren alter Faschisten spannen lassen! Ganz egal, ob es nur ein makabrer Scherz sein sollte oder sogar jemand den Namen dieses Massenmörders reinwaschen will - wie gesagt: Wenn du es nicht wärst, Gerd - jedem anderen würde ich glatt Absicht unterstellen!«
Einige Kollegen hatten genug Takt, sich wenigstens zum Schein wieder ihrer Arbeit zu widmen, nachdem der Chef in seinem Glaskasten verschwunden war. Trotzdem schaute Gerd reihum in gespannte Gesichter und ich bildete mir ein, zwischen ungeniertem Hohn auch ein paar Spuren von Solidarität zu erkennen. Sein alter Freund Matti hatte ihn öffentlich zur Sau gemacht und wie einen Idioten behandelt. Alle ahnten, Busch würde sich das nicht gefallen lassen, aber nur wenige hielten seinen Augen stand. Zuletzt blieb er bei mir hängen. Es war ein warmer Blick. Er lächelte sogar und nickte, als würde schon alles wieder gut.
Dann drehte er sich zu dem Automaten um, an dem er die ganze Zeit gelehnt hatte, warf eine Münze ein und drückte einen Knopf. Die Flasche rumpelte im Schacht, er setzte sie an und trank sie in einem Zug leer. Cola pur - die nächste Sensation für die Kollegen. Danach überraschte es auch keinen mehr, dass er höflich an die Glastür klopfte, bevor er eintrat und die Jalousien hinter den großen Scheiben herabgelassen wurden. Ich raffte schnell die Papiere zusammen, die Matti achtlos liegen gelassen hatte, und verzog mich damit in die Cafeteria.
Der Chefredakteur hatte im Wesentlichen aus einem Nürnberger Urteil zitiert. Auf dem letzten Blatt stand für den alten von Jagemann der Tod durch den Strick. Die nüchterne Sprache der alliierten Juristen unterschied sich kaum von den Befehlen des SS-Mannes, die als Beweise für den tausendfachen Mord beilagen. Ohne die Bilder, die jeder kennt, und allem, was sich zwischen den Zeilen noch so aufdrängte, las sich die Urteilsbegründung fast wie die wohlmeinende Einschätzung eines Beamten, beinahe harmlos:
Nach einer Verletzung 1942, für die er das Ritterkreuz bekam, wurde von Jagemann samt Familie nach Pommern versetzt und von Himmler dort mit einem Gut beschenkt. Im Danziger Reichskommissariat »Ostland« war seine »Barbarossa-Erfahrung« gefragt und für den »Generalplan Ost« präzisierte er ab September 1942 die Aufgaben der Einsatzgruppen. Offenbar hielt es ihn wieder nicht lange auf seinem Schreibtischtätersessel, denn alle für das Urteil relevanten Verbrechen stammten aus der Zeit danach, als er trotz Gehbehinderung und einem fehlenden Auge noch einmal persönlich als Gruppen-Chef in Weißrussland gewütet haben musste.
An den Details mogelte man sich mit Zahlenkolonnen vorbei, alle mindestens dreistellig, dahinter Ortschaften und Begründungen wie »Partisanenbekämpfung«, »Strafmaßnahme nach Befehl 22/43« oder lapidar »J«. Manche Zahlen waren in K, W und M aufgeschlüsselt, vermutlich Kinder, Weiber und Männer. Eine Legende für die Abkürzungen fand sich aber auch im Urteil nicht, als hätte es das allen erleichtert - den Mördern und ihren Richtern.
Der Akte aus Nürnberg lagen noch ein paar lose Blätter bei, die dem Papier nach nicht dazu gehörten. Es waren erbärmliche Kopien, die laut Registratur aus dem »Rasse- und Siedlungshauptamt« stammten und neben alter Schreibmaschinenschrift jede Menge handschriftliche Ergänzungen enthielten, teilweise kaum zu entziffern. Allein zwei Seiten beschäftigten sich über mehrere Generationen hinweg mit der Familie von Jagemann. Neben Carl Ottos Vorfahren waren auch die Eltern und Großeltern seiner Frau Ida von Jagemann, einer 1909 geborenen Freiin von Mutlangen, bis ins 17. Jahrhundert dokumentiert. Idas Tod war später mit einem Kreuz und der Jahreszahl 1990 ergänzt worden. Ihre gemeinsamen Kinder listete ein extra Blatt der Reihe nach auf: Fritz, geb. 23. 09. 1929, Bernburg - daneben handschriftlich - verschollen 1945; Elisabeth, geb. 14. 4. 1932,
Bernburg; Gisela, geb. 26. 4. 1936, Bernburg und Wolfgang, geb. 1943 - ohne genaues Datum - in Groß Tuchen.
Also doch: Gisela und Elisabeth waren seine Schwestern,
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