Die Nachhut
Rand.
»Die überwachen meine Wohnung«, stand da, »deine auch?«
Ich sah verstört zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Genauso gut war es möglich, dass ich nur nichts bemerkt hatte. Verstohlen schaute sich Busch nach allen Seiten um, als wären die Verfolger selbstverständlich auch hinter ihm her.
»Ich sag dir«, flüsterte er, »da läuft eine ganz schräge Kiste. So was macht bei der Presse keiner aus Spaß.«
»Aber wir wissen doch selbst nicht mehr.«
Er hob nur kurz Hände und Schultern und zog seinen Mund in die Breite, als sei das ja wohl Beleg genug.
Matti Jung riss die Tür seines Glaskastens auf, den er sich nach dem Vorbild amerikanischer Reporterfilme hatte anfertigen lassen. Er ließ den Blick durch sein Reich schweifen, dann entdeckte er uns und lief mit schnellen Schritten auf uns zu.
Unter seinem Arm klemmte ein Packen Papier, und er zog sofort einen Schwanz aus Mitarbeitern hinter sich her. Teilweise trugen sie ihm unwichtige Zettel nach, andere schlenderten wie zufällig in unsere Richtung. Die meisten aber machten überhaupt keine Hehl aus ihrer Neugierde und lehnten sich in der Hoffnung auf ein feines Schauspiel mit verschränkten Armen zurück, nachdem sich Matti Jung in der gleichen Pose vor uns aufgebaut hatte.
»Ausgerechnet du«, sagte er und schüttelte affektiert den Kopf: »Das verstehe ich wirklich nicht! Ausgerechnet du, Gerd!«
Matti kostete es lange aus und starrte ernst durch seine Brille. Dann nahm er sie ab und begann sie zu putzen. Endlich konnte man mal seine Augen sehen, die hinter den dicken Gläsern oft verschwammen. Und ich täuschte mich nicht: Lupe, wie ihn die alten Kollegen deshalb gern nannten, war tatsächlich in der Lage, mit jedem Auge einen von uns zu fixieren - vorwurfsvoll, gleichzeitig. Er schielte leicht nach außen.
»Was denn«, fragte Gerd ungerührt zurück.
»Was? Ist das dein Ernst? Der größte Mist, der je über den Sender ging - unser Waterloo. Unser Stalingrad - ach was: Unsere Hitler-Tagebücher! Und du fragst: Was denn?! Die halbe Republik lacht jetzt schon über uns, und der Rest wird auch noch umschalten, wenn er das hier erfährt.«
Dabei knallte er den Papierstapel auf den Tisch und nahm das oberste Blatt in die Hand.
»Von Jagemann nennt sich also eine dieser Gestalten - ihr Sensationsreporter habt nicht zufällig recherchiert, wer das ist, oder?«
»Wir sind noch dabei«, sagte ich, aber die beiden alten Männer quittierten meinen Einwurf mit einem Blick, der so viel bedeutete wie: Halt du dich lieber raus! Vielleicht war es sogar gut gemeint, wenigstens von Gerd. Matti begann zu lesen:
»Carl Otto von Jagemann, geboren am 13. Juli 1900. Leutnant im 1. Weltkrieg, danach Jurastudium, Nazi der ersten Stunde: NSDAP-Mitglied 6046 - beigetreten schon 1926; nach der Machtübernahme im Landwirtschaftsministerium, später bei Rosenberg im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete. SS-Mitglied seit 1938, Stammabteilung Zwei-Zwei...«
»Lass gut sein Matti«, sagte Gerd, »das ist nur der Vater von einem der Knaben, na und?«
Lupe sah kurz auf, schüttelte wieder den Kopf und las angeekelt weiter: »Meldet sich bei Kriegsausbruch sofort freiwillig - kennt man ja: alte Offiziersfamilie - wird 1941 Chef der Einsatzgruppe Nordost - hier steht: SD-Hauptamt/ RSHA. Eisernes Kreuz, 1. Klasse, später 2. Klasse, Ritterkreuz und so weiter, zuletzt SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei. Und wofür hat er die ganzen Auszeichnungen bekommen?«
Das wussten wir nicht. Während Gerd die Schultern hob, machte sich eine merkwürdige Schadenfreude auf Mattis Gesicht breit, denn den Schaden hatte nach seinen Worten ja eigentlich der Sender. Dann holte er tief Luft und zum verbalen Todesstoß aus:
»Als Befehlshaber der Sicherheitspolizei war er für den Mord an 150000 Menschen in Weißrussland verantwortlich. 150000 Frauen, Männern und Kinder - mindestens!«
Effektvoll ließ Matti das Blatt zurück auf den Schreibtisch segeln. Busch und ich standen da wie Deppen - oder wie vor einem Tribunal. Ein Raunen besiegelte unsere Schuld: Wie konnten wir nur? Unglaublich! Deutlich hörte ich auch ein »Pfui Teufel!« und verstand doch nicht genau, was die Kollegen so empörte.
Musste man wirklich die Namen aller Kriegsverbrecher auswendig kennen? Was konnte Fritz für seinen Vater? Oder wir? Matti Jung aber hatte es rhetorisch so aufgezogen, als wenn wir dazugehörten - zu den Mördern, ihren Verwandten oder wenigstens zu den Mitläufern.
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