Die Nachhut
Dann schiebst du solche Irritationen beiseite wie eine störrische Haarsträhne. Dann kommen dir alle Ausnahmen plötzlich wie Regeln vor und du fragst dich auch nicht weiter, wieso vier alte Knacker die innere Sicherheit gefährden, und diese Sache einem Staatssekretär im Auswärtigen Amt besonders am Herzen liegt. Natürlich hatte Wolf Recht: Bei Nazis geht es immer auch um das Ansehen Deutschlands. Letztlich wunderte ich mich nicht einmal mehr darüber, warum ausgerechnet Wolf Jäger wieder etwas gelten wollte in der Welt, wozu dieses Land überhaupt einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat brauchte - ausgerechnet wir? Und alles streng geheim.
Wenn man erstmal begriffen hat, was gut und richtig ist, scheint auch alles andere nur logisch: Wolf gehörte zu den Guten, die Sache sowieso - was gab es da noch zu demonstrieren oder zu diskutieren? Das allein war mir schleierhaft.
Der große Saal der Bundespressekonferenz war dennoch voll. Ein bunter Strauß Mikrofone reckte sich uns entgegen. Dahinter blitzten Fotografen ihre Batterien leer. Ich zählte mehr Fernsehkameras, als es bei mir zu Hause Programme gab. Auf der Teilnehmerliste standen Zeitungen, die ich nur vom Flughafen kannte, aus ganz Europa, Amerika, Asien und natürlich war auch jedes deutsche Blatt mit eigenem Korrespondenten in der Hauptstadt vertreten. Wolfs Pressereferenten hatten saubere Arbeit geleistet oder leichtes Spiel gehabt, wenn man so will - ein Heimspiel.
Wenn in Deutschland Ausländer erschlagen wurden, schaute die Welt immer noch genauer hin als anderswo. Zum Glück, denn hierzulande sah man allzu gern darüber hinweg oder stritt sich lieber, in welchem Zusammenhang das Wort Autobahn noch benutzt werden durfte. Jeder in Deutschland fand es selbstverständlich, dass man gegen Nazis Sondereinheiten aufstellte, aber niemand fragte, wieso das nötig war. Und keiner konnte diese Fragen auf so elegante Art nicht stellen wie Wolf Jäger.
Hinreißend erklärte er den Journalisten, warum »jeder anständige Deutsche« die Demonstration heute Abend besuchen werde: Knappe, starke Worte fand er über »Zivilcourage«, die Verantwortung jedes Einzelnen und insgesamt, »gerade in diesem Land«. Ich hätte ihm das alles auch gern ohne internationale Presse abgenommen, ohne die Historikerkonferenz am nächsten Tag und das, was angeblich noch im Hintergrund lief. Es passte nur einfach alles zu gut zusammen und zu Wolfs außenpolitischen Zielen. Vielleicht würde sein Gedenkfestival sogar das Gemurre unserer Nachbarn über die neu entdeckte deutsche Opferrolle beruhigen. Dresden, Vertreibung und dieses ganze larmoyante Gejammer. Die Regierung hatte wirklich Glück, dass ihr »Aufstand der Anständigen« auf dasselbe Wochenende fiel wie die Konferenz. Jedenfalls glaubte ich lieber an einen Zufall als den Anstand der Deutschen. »Anständige Deutsche« waren für meinen Geschmack schon zu oft gefragt gewesen. Aber vielleicht müssen Politiker einfach immer so reden.
Die Journalisten pinselten ihre Blöcke voll und erlebten einen bestens gelaunten Staatsekretär.
»Also wissen Sie«, so parierte er harmlose Fragen, »ob nun zweihundert- oder dreihunderttausend kommen, das müssen Sie den Leuten schon selbst überlassen. Alle Mitarbeiter im Auswärtigen Amt haben jedenfalls ab Nachmittag frei. Andere Ministerien und Behörden der Stadt handhaben es ebenso.« Er lächelte böse: »Natürlich kann man nicht mal Beamte zu einer Demo verpflichten, aber allein der personelle Überhang in Berlin dürfte schon für eine Menschenkette quer durch die Stadt reichen.«
Die Pressemeute lachte herzlich. Manchmal war es richtig peinlich, wie sich in diesem Geschäft jeder bei jedem anbiederte. Personalabbau im öffentlichen Dienst war gerade ein heißes Thema. Und natürlich würde an diesem Freitag kein Beamter rechtzeitig zum Mittagessen bei seiner Familie im Westen sein, wenn die Chefs für eine gute Sache vornweg marschierten.
»Und was passiert, wenn die Nazis auch demonstrieren«, fragte ein Journalist, »wie man hört, liegt von denen für die gleiche Strecke sogar eine gültige Anmeldung vor.«
Einer von den überregionalen Klugscheißern, die immer das Haar in der Suppe suchen, hatte es gefunden. Über den Flurfunk hatte ich auch erfahren, dass man es versäumt hatte, die eigene Demonstration rechtzeitig anzumelden. So sicher war man sich der guten Sache, so hoch angebunden das Ganze, dass niemand mehr an die einfachsten Dinge gedacht hatte. Die
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