Die Nachhut
versprach einen einzigen, wenn auch schon wieder zehn Jahre alten Treffer. Verzweifelt hackte ich meine Kreditkartennummer ins Netz, als der Doro-Chef anrief.
Vorsichtig fragte er, wann ich denn ungefähr bei ihm aufschlagen wolle: Der Laden wäre ausverkauft, über 300 Leute langweilten sich bei Konservenmusik und so hilflos, wie er klang, hätte ich meine Gage sicher im Handumdrehen verdoppeln können. Doch neben mir summte der Drucker und ich nahm sein Flehen nur mit einem Ohr wahr.
Während ich die erste Seite eines Artikels über ein Wohnstift für reiche alleinstehende Damen überflog, schlug der Diskobesitzer einen anderen Ton an und drohte mit einer Vertragsstrafe. Die zweite Seite brach mitten in der Übertragung ab, aber nachdem ich das Telefon aufgelegt hatte, flutschte es wieder. Auf der dritten Seite war sogar ein Bild: Zwei alte Frauen waren darauf zu sehen. Sie saßen in steifen Blusen auf einer Gartenbank vor einem gedeckten Tisch, darunter die Bildunterschrift: Tea-Time im Stiftsgarten - Gisela und Elisabeth von Jagemann verzichten auch im Alter nicht auf Stil.
Ein Volltreffer war das nicht gerade: Zwei Euro für einen uralten Artikel über eine Villa in Wiesbaden, die sich zehn »höhere Töchter« teilten, um standesgemäß zu altern. Notfalls gab es auch Pflege im Haus, aber außer unter dem Bild kein Wort mehr über die beiden. Dafür hatte ich es mir nun ein für alle Mal mit dem Doro- Mann verscherzt. Von Jagemann war eine Sackgasse. Blieb nur noch die lauwarme Spur von Josef Stahl.
Im Doro tanzten sie wahrscheinlich noch zu irgendwelchen schlechten Tracks des Ersatz-DJs, als ich mich auf den Weg in die Redaktion machte. Ich hatte mich an das alte Adressbuch von 1938 erinnert, das dort zwischen einer Batterie jüngerer Telefonbücher verstaubte, die so etwas wie die Bibliothek von Kanal 5 darstellten. In den Pausen zwischen den Drehs hatte ich oft darin geblättert und sogar mal eine Vorlage für einen richtig geilen Flyer entdeckt. Die bizarren Anzeigen für Likör- und Tabakgeschäfte, Tanzdielen und Vereinslokale der 30er Jahre hatten etwas, das diese Zeit mit der boomenden Clubkultur der 90er verband: Aufbruch und Dekadenz, tanzende Hedonisten und Drogen. Warum sollte nicht auch das Frisörgeschäft Stahl darin verzeichnet sein?
Der Nachtwächter staunte, aber verlangte keine Erklärungen, nachdem ich meine Schlüsselkarte durch den Schlitz gezogen hatte. Auf seinem kleinen Fernseher liefen Gewinnshows. Wir waren uns vorher nie begegnet, aber ein kleiner Chip reichte, um Kollegen aus uns zu machen, so wie heutzutage eine einzige CD-Rom für die Adressen des ganzen Landes genügte.
Manchmal muss man wirklich zugeben, dass es unsere Großeltern nicht so einfach hatten. Das alte Adressbuch war für eine gezielte Suche nach Namen völlig ungeeignet, nur nach Straßen sortiert und die gingen auch nur von A bis G. Laut Inhaltsverzeichnis gab es noch zwei weitere Bände, die vermutlich seit 60 Jahren fehlten, aber die Suche nach dem väterlichen Frisörgeschäft eines verschollenen SS-Mannes sicher kaum komfortabler gemacht hätten.
Ich kam mir ganz schön bescheuert vor. Noch vor einer Woche hätte ich das Buch sofort in die Ecke geschmissen und irgendwas zum Runterkommen aufgelegt, den Second-Floor-Remix von Panda zum Beispiel, dazu einen Joint. Genau so. Und jetzt?
Gerade mal alle Einträge bis zur Bismarckstraße hatte ich überflogen, als kurz vor sechs Uhr die Frühschicht das Programm übernahm. Außer den beiden Morgenmoderatoren sahen noch alle ziemlich zerknautscht aus. Manche begrüßten mich mit einem süffisanten Zug um den Mund, andere wollten gar nichts mit mir zu tun haben. Zwei Stunden später tauchte auch Gerd Busch auf und kurz nach ihm unser Chefredakteur Matthias Jung. Das Geraschel der Zeitungen verstummte sofort. Das Warten auf den großen Knall zwischen den beiden Urgesteinen des Senders lähmte jede Geschäftigkeit.
Mir war das zwar auch nicht egal, aber mein Finger war mitten im Flug durch die Eisenacher Straße gerade bei Nummer 17 hängen geblieben: »M. Stahl, Frisörmeister.« War das Glück oder Müdigkeit? Der Jackpot! Und nur zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt. Ich riss die ganze Seite heraus und zuckte wie ein ertappter Verbrecher zusammen, als mir jemand von hinten eine dpa-Meldung über die Pleite eines Baukonzerns auf den Tisch warf. Erst verstand ich nicht, was mir Busch damit sagen wollte, dann erkannte ich seine krakelige Handschrift am
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