Die Nachhut
In der Schule, von anderen Kindern. Dass dieser Kieler nicht sein Vater ist, hat er nie verwunden - und Mutter nie verziehen. Wollen sie ihm daraus noch heute einen Strick drehen?«
»Was denn für einen Strick? Ich rede von ihrem Bruder! Ihr Bruder lebt! Sagen Sie bloß, sie wussten das die ganze Zeit?«
»Was dachten Sie denn?!« Sie trat ans Fenster. »Vater hat uns ja rechtzeitig aus Pommern evakuieren lassen.«
»Nach Kiel?«
»Nicht Kiel. Kieler, ein Studienfreund von Vater, so ein typischer Wendehals. Vater ahnte wohl, was ihm drohte, und hat ihn deshalb ausgesucht. Wir sollten alle offiziell bei einem Luftangriff ums Leben kommen. Am 3. Februar war es so weit. Kieler hat uns vermisst gemeldet, neue Papiere besorgt und das Familienvermögen in die Schweiz geschleust. Sobald Vater ein Zeichen geben würde, sollten wir ihm ins Ausland folgen.«
»Aber dann haben ihn die Alliierten doch geschnappt.«
»Ja, leider, und Kieler hat es in seinem Auftrag lange verschwiegen, selbst gegenüber Mama. Vater dachte vermutlich, sie würden kurzen Prozess mit ihm machen. Deshalb spielte Kieler weiter den Familienvater, vor allem für Wolfgang. Tat, als ob ihm alles gehörte: unser Vermögen, Mutter und wir natürlich auch. Sie hat es sich nie anmerken lassen - es war ja seine Rolle. Aber wir Kinder haben ihn für sein scheinheiliges Getue gehasst. Als die Schauprozesse vorbereitet wurden, hat auch Mutter die Wahrheit erfahren und die Farce sofort beendet.«
»Und Kieler rausgeschmissen?«
»Nein, Vaters Namen wieder angenommen. In guten wie in schlechten Tagen - das galt damals noch was. Einmal durfte sie ihn sogar noch besuchen. Er wollte, dass sich Kieler weiter um die Familie kümmert. Sie hat auch das respektiert und aus Liebe zu ihm den Rest ihres Lebens mit einem anderen verbracht. Ledige Männer gab es nicht gerade im Überfluss. Ich selbst - ach egal!«
»Verstehe«, sagte ich, um ihr die Pause zu erleichtern, und verstand es tatsächlich. Es war heute nicht anders.
Plötzlich zuckte sie zusammen und trat einen Schritt vom Fenster zurück. Einen Schatten hatte ich auch gesehen. Etwas war vom Dach gefallen. Im Hof gab es Geschrei. Ich riss das Fenster auf. Ein paar Taschenlampen zuckten und zielten etwa zehn Meter unter mir auf einen Haufen, der aussah wie ein Sack Wildleder. Jemand brüllte ihn an: »Keine Bewegung!« Und die grauen Locken ...
»Bitte warten Sie! Ich bin gleich zurück, ja?«
Elisabeth von Jagemann nickte nur und ich legte meinen Schlüsselbund vor ihr auf den Tisch. Sie sollte mir vertrauen - und wenn nicht: Weit würde sie auch so nicht kommen.
Im Erdgeschoss rannten Wachschutzleute aufgeregt hin und her, bis auf Elber und den Oberpförtner vom Haupteingang alles keine BKA-Beamten. Ich schubste mir den Weg auf den Hof frei und hatte mich mit der künstlichen Mähne nicht getäuscht. Sie lag in einer dunkelroten Pfütze. Gerd Busch stöhnte leise.
»Einen Notarzt! Hat jemand einen Notarzt gerufen?«
Die Wachleute starrten mich an. Elber zuckte die Schultern:
»Aber die Vorschrift verlangt, immer erst den Diensthabenden zu verständigen ...«
»Ich habe Dienst. Jetzt machen sie schon!«
Einer zückte sein Handy, während ich mich neben Gerd Busch hockte. Seine Blicke irrten umher, aber fanden keinen Halt in meinem Gesicht. Ich hob seinen Kopf leicht an. Danach schien er mich zu erkennen und bewegte eine Hand. Ich wollte sie nehmen und halten, aber er entzog sie mir immer wieder, bis ich begriff, worum es ihm ging. Er wollte auf etwas zeigen, das hinter ihm lag. Eine Videokassette war ihm aus dem Hosenbund gerutscht, er nickte, als ich sie an mich nahm. Dann hob er wieder die Hand. Diesmal durfte ich zugreifen und spürte ein Stück Papier darin, außerdem einen Autoschlüssel. Er bewegte die Lippen, aber bekam kein einziges Wort heraus. Und ich auch nicht, bis mich zwei Rettungssanitäter grob zur Seite stießen.
Sie schnitten Gerd Hemd und T-Shirt auf und rammten ihm eine Kanüle in den Arm. Ein Arzt kam dazu, redete auf Busch ein, der die Augen geschlossen hatte, und gab den Sanitätern Anweisungen in Millilitern, während er mit seinen Latexhänden eine offene Wunde am Becken untersuchte. Als sie ihn zu dritt mit einem Ruck auf die Trage hoben, rutschten ein Notizbuch und zwei weitere Videokassetten aus seinem Hemd, die sie achtlos zur Seite schoben.
Schnell raffte ich alles zusammen, als wollte ich ihm sein Zeug hinterhertragen, und starrte auf die Visitenkarte in meiner Hand:
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