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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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kommentiert. Ab und zu kommen auch ein paar vergreiste Überläufer zu Wort, eingeschüchtert und geblendet von Scheinwerfern werden sie als angebliche Augenzeugen verhört. Dabei sind sie alle viel zu alt, selbst für den Volkssturm.
    Es ist lächerlich. Kann alles nicht wahr sein. Darf es nicht.
    Ganz besonders infam wird über die SS hergezogen, nicht nur über die Polizei- und Wacheinheiten, die sicher manchmal nicht zimperlich sind, sondern auch die kämpfende Truppe. Als hätte es die vornehmsten Heldentaten der Waffen-SS nie gegeben, schiebt man uns unglaubliche Verbrechen in die Stiefel: Hinrichtungen von Zivilisten, Massengräber, kein Wort über unsere Verluste. Unerträglich. Wenn ich nicht wüßte, daß Deutsche so etwas nicht tun - oder wenigstens, wie man das Gerät zum Schweigen bringt! Doch welche Knöpfe ich auch drücke, die Lautstärke schwillt nur weiter an. Die Granateinschläge kommen förmlich aus allen Zimmerecken. Schrapnells fliegen mir rechts und links um die Ohren. Ich halte mir Augen und Ohren zu, schreie dagegen an: Lügen! Nichts als Lügen! Sogar Josef muß davon aufgewacht sein, denn plötzlich steht er vor mir, rüttelt mich an den Schultern und fragt immer wieder: Was tun wir nicht? So erlebt er, nachdem ich mich beruhigt habe, immerhin mit, wie sich das Machwerk am Ende selbst entlarvt.
    Infernalisch wird der Untergang Berlins inszeniert: Russenpanzer rollen durch zerstörte Kulissen. Sogar den Reichstag haben sie nachgebaut, um ihre roten Kommunistenlappen darauf zu hissen. Blutjunge Schauspieler, fast noch im Pimpfenalter, werfen sich den Bolschewisten tapfer entgegen. Und obwohl damit nur ihre Chancenlosigkeit im Kampf für die Heimat illustriert werden soll, schlägt auch diese Absicht fehl: Bei aller gespielter Angst in ihren Gesichtern wachsen die kleinen Helden doch über sich hinaus und würden jedes deutsche Mutterherz mit Stolz erfüllen. Wenn der Untergang eines Tages tatsächlich unvermeidbar wäre - genau so möchte man ihn sich wünschen: bedingungslos und total.
    Berlin in Schutt und Asche - davon mochten sie träumen! Wir haben das Gegenteil mit eigenen Augen gesehen. Die Reichshauptstadt ist heruntergekommen, keine Frage, aber bis auf ein paar Lücken oder den fehlenden Bahnhof stehen überall Häuser. Man bräuchte mindestens 60 Jahre Frieden, um das wieder aufzubauen. Aber wo ist der Bahnhof, fragt Josef. Auf jeden Fall übertreiben sie, sage ich. Und wenn nicht, fragt er, was dann? Unmöglich!
    Wut treibt mich vom Sofa und Verzweiflung kopflos durch die Räume, während Stahl weiter in den Büchern blättert. Im Bad fällt mir eine Hakenkreuz-Armbinde auf. Jemand hat sie dekorativ über eine Papierrolle gezogen, und mir steht das Herz still, als ich den wahren Zweck erkenne: Unser Symbol für alles Leben hält eine Reserverolle Toilettenpapier zusammen. Klopapier! Nicht einmal Monse traue ich so eine Geschmacklosigkeit zu. Es muß der abartige Humor des Wohnungsinhabers sein. Das würde auch zu der lebensgroßen Büste von Reichsmarschall Göring passen, die im Fenster über der Badewanne steht und eine Badekappe trägt.
    Mir wird schwindelig: Was sich die Leute heute rausnehmen, übersteigt jedes vorstellbare Maß. Zuerst befreie ich Göring von der Kappe, dann die Armbinde von ihrer würdelosen Aufgabe. Der rote Stoff strahlt noch wie neu und scheint auch viel stabiler verarbeitet als früher. Ich kann nicht sagen, daß ich sie besonders vermißt habe, aber vor etwa 20 Jahren sind die morschen Dinger einfach auseinandergefallen. Im Gegensatz zu fast allen anderen Ausrüstungsgegenständen fanden wir im Objekt nirgendwo Ersatz. Andächtig ziehe ich sie mir über den linken Arm, auch wenn sie eigentlich zu einer SA-Ausgangsuniform gehört und rechts getragen wird - ich weiß. Wenn nur dieses ewige Reißen im Ellbogen nicht wäre. Josef wird trotzdem Augen machen!
    Ausgerechnet Elber hatten sie als Wache eingeteilt. Schiller wollte ihn wohl im Innendienst vor mir verstecken, nachdem der Personalrat seine sofortige Suspendierung abgelehnt und ich weiter darauf bestanden hatte. Jedenfalls gab es für ihn keinen Grund zur Freude, als er den Kopf aus der Tür zu unserem Vernehmungsraum streckte und ich vor ihm stand. Aber er sah trotzdem erleichtert aus, wenn auch ansonsten ziemlich fertig.
    »Gut, dass Sie kommen«, keuchte er, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken erschöpft dagegen, »sie verlangt einen Anwalt, schreit seit Stunden

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