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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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hysterisch herum und hat die Medikamente von Dr. Worch einfach aus dem Fenster geworfen.«
    Von innen flog ein Gegenstand gegen die Tür. »Aufmachen!« Jemand trommelte mit schwachen Fäusten auf das Polster ein. »Das werden Sie noch bereuen, unverschämter Flegel!«
    Elber zuckte bei jedem Hieb zusammen. Er hatte wirklich Angst. Die alte Dame schien eine gerechte Strafe für ihn zu sein und ich musste alle Selbstbeherrschung aufbringen, um weder zu grinsen noch seine Not länger auszukosten.
    »Jetzt machen Sie schon auf«, schnauzte ich ihn an.
    Vorsichtig ließ er die Klinke los und trat einen Schritt zur Seite. Er zögerte, bis ich selbst Zugriff und gerade noch rechtzeitig den Kopf einzog, als eine Dose mit Büroklammern am Türrahmen zerschellte. Elber machte sich sofort daran, die Büroklammern einzusammeln, und sah mich an, als würde er den Flur auch noch kehren, wischen und auf Knien frisch bohnern, nur um nicht noch einmal in dieses Zimmer zu müssen.
    Tatsächlich hielt sich die Verwüstung in Grenzen. Die alte Dame hatte lediglich einen Schreibtisch abgeräumt und ließ den nächsten Aktenordner sofort sinken, als ich eintrat. Es war die Quartalsstatistik der fremdenfeindlichen Gewalttaten, eines meiner wichtigsten Argumente. Noch mehr aber erschrak ich über die Gewalttäterin. Denn auch sie erkannte ich sofort.
    Vor mir stand Fritz von Jagemann, nur als feine Dame verkleidet: die gleiche hohe Stirn, der faltige Mund, die Haut über den Wangenknochen immer noch straff wie die ganze Statur. Auch Elisabeth hatte sich dem Alter nicht gebeugt und vermutlich war das auch sonst nicht ihre Art, denn sie nahm mich sofort zur Brust.
    »Aha, die Chefin, nehme ich an. Wird ja auch Zeit! Wollen Sie mich auch erst kennenlernen oder sich gleich entschuldigen? Ein Nachspiel wird das trotzdem haben. Ich werde mich ganz oben beschweren. Und klagen werde ich auch!«
    Sie war außer sich, aber auch müde. Ihre Worte wirkten wie ein auswendig gelerntes Gedicht, als hätte sie damit heute schon hundertfach vergeblich gedroht. Ich stellte mich mit vollem Namen vor. Sie nahm es ungerührt zur Kenntnis.
    »Hier«, sagte sie nur und schob mir eine Hand voll Papier über den Tisch, »das allein ist ein bodenlose Frechheit!«
    Es waren Protokolle ärztlicher Untersuchungen und in ihrem Fall die Empfehlung zur stationären Aufnahme, unterschrieben von Worch. Ich blätterte die Seiten hastig durch. Obwohl es unterschiedliche Patienten waren, tauchten ständig die gleichen Begriffe auf, jede Menge »Wahnideen«, »Psychosen« und - wie immer, wenn Psychiatern nichts anderes einfällt - der berühmte »schizophrene Formenkreis«. Unterm Strich glichen sich die Befunde für Elisabeth von Jagemann, Otto Böttcher und Josef Stahl fast aufs Wort: »Traumatische Störung nach nicht näher explorierbarer Extrembelastung«. Nur Fritz und Konrad fehlten.
    »Woher haben Sie das«, fragte ich.
    »Jetzt tun Sie doch nicht so scheinheilig! Das lag alles hier auf dem Tisch und ist an Sie adressiert.«
    Am Vormittag waren die Papiere noch nicht dagewesen. Aber woher sollte sie wissen, dass ich nichts damit zu tun hatte? Fast nichts jedenfalls.
    »Wann hat Sie Dr. Worch denn untersucht?«
    »Wie bitte?! Ich kenne den Kerl überhaupt nicht. Hier war kein Doktor. Aber glauben Sie mir: Ich kann es kaum erwarten!«
    Zweifellos würde sie ihm jedes Symptom liefern, das er für eine Einweisung brauchte. Ich musste es ihr vorher sagen. Jetzt. Denn jeden Moment konnten Schiller und die anderen hier sein.
    »Frau von Jagemann, bitte! Ich muss mit Ihnen reden. Es geht um ihren Bruder. Am besten wäre, Sie setzen sich mal hin.«
    Der Anfang war gemacht. Ich rückte ihr einen Stuhl zurecht und wartete auf irgendeine Regung in ihrem Gesicht. Aber entweder glaubte sie mir sowieso kein Wort oder sie ahnte es bereits: Sie blieb stehen, lächelte mitleidig und bevor ich weiterreden konnte, holte sie selbst tief Luft:
    »Glauben Sie mir: Wir haben genug gebüßt. Mutter allein mit drei Kindern und diesem Namen. Sie hat zwar versucht, das meiste von uns fernzuhalten. Aber wir Großen wussten ja Bescheid.«
    Sie machte eine Pause und sah mich an, als müsste ich verstehen, wie schwer das ist als Kriegsverbrecherkind. Sie warb nicht um Verständnis, sie setze es voraus und ruhte in sich und ihrer Biografie, worum ich sie fast beneidete.
    »Sicher«, fuhr sie in dem gleichen lapidaren Tonfall fort, »unser Wölfchen hat es erst am Tag nach Vaters Hinrichtung erfahren.

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