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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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Zeitung nicht entnehmen. Aber die Verhandlung findet offenbar in aller Öffentlichkeit statt. Vermutlich soll ein Exempel statuiert werden, denn die Zeitung ruft außerdem zu Protesten auf, die unter dem Motto: Nie wieder! stehen und sich gegen so genannte freie Kameradschaften richten, die ebenfalls Protest angemeldet hätten.
    Irritiert lasse ich die Zeitung sinken und erschrecke wie ein Kind im Keller, als mich eine junge Frau anschreit.
    Wie bitte, frage ich zurück.
    Sie brüllt es mir noch mal ins Ohr, und ich habe mich doch nicht verhört: Opa nennt sie mich und fragt, was ich trinke.
    Ich springe empört auf. Soll sie doch mal selber in den Spiegel sehen: Ihre Haare schimmern in allen möglichen Farben und stehen wüst in jede Richtung ab. Allein ihre Frisur müßte man wegen Zersetzung jedes normalen Form- und Farbempfindens ahnden. Aber sie drückt mich sanft zurück auf meinen Hocker und lächelt.
    Keine Sorge, sagt sie, ich müsse nicht unbedingt etwas bestellen. Sie habe selbst auf der Straße gelebt, und solange ihr Chef nicht da sei und genug Platz im Laden - kein Problem.
    Ich will etwas entgegnen, aber sie winkt nur ab. Dann zupft sie an meinem Mantel: Schaues Teil, sagt sie, Kleiderkammer?
    Es soll wohl ein Kompliment sein, aber ich habe nun keine Zeit mehr für Plauderei und Fragen, sondern endlich einen Plan: Morgen soll das Tribunal eröffnet werden. Dazu die angekündigten Aufmärsche auf dem Alexanderplatz. Dort, spätestens, werde ich auch auf Dienstränge stoßen, die mir weiterhelfen können. Und wenn es nur der ehrenvolle Abschied ist - Hauptsache Klarheit!
    Weit kann es nicht sein. Trotzdem ernte ich mehr als einmal blödes Gelächter, als ich nach dem Weg zum neuen Volksgerichtshof frage. Verdorbenes Jungvolk schickt mich auch noch feixend in die falsche Richtung, und ich merke es erst, als ich mich in einem Labyrinth aus Beton verirrt habe. Das Gelände liegt mitten in der Stadt und mißt bestimmt 150 Meter im Quadrat. Anfangs erkenne ich noch das Brandenburger Tor, dann schlagen die unterschiedlich hohen Quader förmlich über mir zusammen. Es könnte ein Heldenfriedhof sein, aber ich bin mir nicht sicher. Fingerdicke Risse ziehen sich durch den Beton, obwohl sonst noch alles recht neu wirkt. Wer es mit den Opfern seines Volkes ehrlich meint, denke ich, hätte sicher nicht am Material gespart und vielleicht auch älteren Besuchern die Orientierung erleichtert.
    Eine halbe Stunde stolpere ich kreuz und quer durch den versteinerten Irrgarten, bis mich ein uniformierter Wächter rettet. Er knurrt so unfreundlich wie sein Schäferhund: Ich solle mich bloß davonmachen. Er wolle keinen Ärger mit Pennern und so einem politischen Scheiß. Genau das sind seine Worte, während er ängstlich auf meine Armbinde deutet. Dann führt er mich hinaus.
    Unter den Linden streife ich die SA-Binde ab. Nicht aus Feigheit, aber sie scheint auch nicht gerade hilfreich zu sein. Und auf Schritt und Tritt wechseln sich neue Zweifel mit Zeichen der Normalität ab: Die Botschaft der Amerikaner wird von deutscher Polizei streng bewacht - nicht anders erwartet man das im Krieg. Auf der anderen Seite strömen die Leute über den Boulevard, besuchen Empfänge und Theater, wie das nur im Frieden so unbeschwert vorstellbar ist. Vor einer Filiale der Dresdner Bank studiere ich die Aushänge und kann die Schweinerei kaum glauben: Bis zu zwölf Prozent Zinsen verlangen sie - ausgerechnet die Hausbank der SS, wo auch mein Soldkonto noch laufen müßte!
    Hieß es nicht immer, wir befreien uns aus der Knechtschaft des Großkapitals? Waren das auch alles nur leere Versprechungen wie die Wunderraketen und modernen Vierstrahljäger, die eine Wende bringen sollten? Und wenn die Niederlage wirklich so verheerend war, so total und vernichtend, wie Monse behauptet: Wieso geht es der Heimat schon wieder so gut? Hat jemand alles auf Null gestellt? Wo sind die Sieger und Besatzer? Wo die Verlierer?
    Ob die Dresdner auch ebenso hohe Zinsen zahlen?
    Ich versuche, mir die Jahrzehnte im Zinseszins auszurechnen, doch weit komme ich nicht. Meine Schritte werden immer langsamer davon, als hätte mir jemand Blei in die Stiefel gegossen. Wenn es wahr ist, was ich fürchte, wiegt das kein Geld der Erde auf. Ein ganzes Leben unter Tage, womöglich umsonst. Schwermut überkommt mich, wie ich sie vorher nie kannte. Die Zeit war stehen geblieben da unten. Ich war 17 - über 60 Jahre lang. Nun spüre ich sie auf einmal in jedem Knochen, und auch die

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